Neue Runde im “großen Spiel”

Die lange angekündigte türkische Operation »Olivenzweig« mit ungewissen Fronten zeigt, dass der Krieg um Syrien noch lange nicht beendet ist

Der Einmarsch der türkischen Armee im Norden Syriens war erwartet worden. Die Operation unter dem Namen »Olivenzweig« begann in den frühen Morgenstunden des 19. Januar 2018. Ziel des Angriffes ist das Gebiet um die Kleinstadt Afrin, die rund 40 Kilometer nordwestlich der syrischen Metropole Aleppo liegt.

Unter dem Feuerschutz von in Deutschland produzierten »Leopard«-Panzern rückten Kampfverbände gegen Afrin vor, die von der Türkei und ihren Partnern am Golf und in der NATO bisher zu dem Zweck unterstützt worden waren, die syrische Führung zu stürzen, darunter auch die »Freie Syrische Armee«.

Die Türkei gibt vor, aus Gründen der »Selbstverteidigung« anzugreifen. Die Bewaffnung der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) durch den NATO-Partner USA bedeute eine Gefahr für die türkische Nation. Washington hatte die kurdischen Kämpfer seit 2014 als Bodentruppe der US-geführten »Anti-IS-Koalition« trainiert und ausgerüstet. Ankara gehört dieser Koalition ebenfalls an. Nun, da der »Islamische Staat« weitgehend zerschlagen ist, wollen die Vereinigten Staaten aus den kurdisch dominierten »Syrischen Demokratischen Kräften« eine 30.000 Mann starke Grenzschutztruppe schmieden.

Die Türkei sprach von einer »Terrorarmee«, deren Aufstellung verhindert werden müsse, und warnte die USA, deren Spezialeinheiten sollten sich angesichts der vorrückenden türkischen Soldaten von den Kurden fernhalten. Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte an, nach Afrin sei der östlich von Aleppo gelegene Ort Manbidsch dran. »Nach und nach werden wir diese dreckigen Terroristen, die in unser Land eindringen wollen, verscheuchen. Beginnend im Westen und bis hin zur irakischen Grenze.«

»Demokratische Föderation«

Afrin ist ein ländliches Gebiet. 360 Dörfer und Weiler gibt es, fast alle verfügen über eine Grundschule. In Afrin wird das beste Olivenöl Syriens hergestellt. Hier gibt es Wasser, Obst und Gemüse; die historischen Stätten des frühbyzantinischen Simeonsklosters und des Siedlungshügels Tell Ain Dara zogen früher Touristen und Archäologen an.

Afrin ist heute mehrheitlich von Kurden bewohnt. Es gibt Araber und Jesiden, die meisten Christen haben das Gebiet verlassen und leben heute in Aleppo oder anderen syrischen Städten. Wie Regierungschefin Hevi Mustefa der Autorin Anfang Januar 2018 angab, hat der Kanton heute mit rund einer Million Einwohnern eine sehr viel höhere Einwohnerzahl als vor dem Krieg. Geschuldet sei das dem Zulauf an Inlandsvertriebenen aus anderen Kriegsgebieten. Zudem hätten sich Geschäftsleute, die Aleppo 2012/13 verlassen hatten, in Afrin niedergelassen.

Seit 2014 gehört der Kanton der »Demokratischen Föderation Nordsyrien« an. Diese Föderation ist eine Gründung der Partei der Demokratischen Union (PYD), einer Schwesterorganisation der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Beide betrachten Abdullah »Apo« Öcalan als Präsidenten der Kurden. Der PKK-Gründer sitzt seit 1991 in der Türkei auf der Insel Imrali in Isolationshaft und kann sich selbst nicht politisch in die Entwicklungen einbringen.

Die ursprüngliche Straße von Aleppo nach Afrin führte früher über Asas unweit der syrisch-türkischen Grenze. Der Ort wurde nach 2012 von wechselnden islamistischen Kampfgruppen eingenommen und wird heute von der Türkei kontrolliert. Bauern aus dem Umland von Asas, die ihre Waren früher auf den Märkten von Aleppo verkauften, sind heute gezwungen, türkische Märkte zu bedienen, erzählt der Bruder eines Bauern aus Asas. Der Mann hat seine Familie seit Kriegsbeginn 2011 nicht gesehen. Er diente in der syrischen Armee und wird von den neuen Herrschern in Asas gehindert, seinen Heimatort zu betreten.

Der kurdische Checkpoint bei Nubul ähnelt einer Grenzanlage. Reisende müssen aussteigen und durch einen mit Draht abgesperrten Streifen die Kontrollen passieren. Dahinter wehen die Fahnen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ. Bilder von Abdullah Öcalan und als Märtyrern verehrten Gefallenen sind an Ortseingängen und Kreuzungen angebracht, an einem Checkpoint kurz vor der Stadt Afrin steht auf einem Sandwall groß in steinerner Schrift die Losung »Biji Serok Apo« zu lesen: »Es lebe unser Anführer Apo«. In der Stadt selbst wurden dieser Slogan sowie das Konterfei Öcalans mit Hilfe einer Schablone an viele Hauswände gesprüht.

Die Kurden in Afrin haben eine demokratische Verwaltung installiert. 15 Minister sind unter anderem für Kultur und Gesundheit, für Inneres und Äußeres sowie für die Verteidigung zuständig. Im Umland der Kleinstadt Afrin liegen heute Stützpunkte der Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ. Sie bilden – wie auch in Manbidsch, Hasaka und Ain Al-Arab/Kobani – eine Selbstverteidigungsarmee aus, die Hêzên Xweparastinê oder auch Hêza Parastina Xweser (HXP) genannt wird. Für die Bewohner der von YPG/YPJ kontrollierten Gebiete ist ein Grundwehrdienst in der HXP verpflichtend. Der Zulauf zu den bewaffneten Einheiten sei groß, weil man dort gut bezahlt werde, berichten aus Afrin stammende Kurden der Autorin in Damaskus. Fragen, woher die HXP Uniformen, Waffen und Munition erhalten hätten, weichen die Gesprächspartner aus. Es steht zu vermuten, dass die Ausrüstung von den USA per Luftfracht oder auf dem Landweg aus dem Nordirak geliefert wurde. Nach Afrin kamen die Waffenlieferungen vermutlich über den syrischen Militärstützpunkt und -flughafen Menagh südlich von Asas.

Ein Jahr lang, zwischen August 2012 und August 2013, hatten bewaffnete Gruppen Menagh belagert. Schließlich war der Stützpunkt von verschiedenen islamistischen Kampfverbänden, darunter auch dem IS, eingenommen worden. Im Februar 2016 eroberten die kurdischen Kämpfer und die »Syrischen Demokratischen Kräfte« das Gelände zurück, wobei sie von der russischen Luftwaffe unterstützt wurden.

Bei der türkischen Offensive »Olivenzweig« gehörte der Flughafen Menagh zu den ersten Zielen, die bombardiert wurden. Das russische Verteidigungsministerium erklärte dazu laut Sputnik News vom 20. Januar lapidar: »Die unkontrollierte Lieferung moderner Waffen an proamerikanische Kräfte in Nordsyrien durch das Pentagon, darunter nach vorliegenden Informationen auch schultergestützte Boden-Luft-Raketensysteme, trug zur raschen Eskalation in der Region bei und führte zu dem Spezialeinsatz der türkischen Truppen.« Das türkische Außenministerium wiederum gab an, das Eindringen in den Luftraum über Afrin werde mit Russland und Iran abgesprochen.

In der englischsprachigen türkischen Zeitung Hürriyet Daily behauptete ein Kommentator, es gebe zum Angriff auf Afrin keine Alternative. Das Gebiet werde »von den PKK-Banden« kontrolliert, über Afrin würden diese bewaffnet, mit Afrin kontrollierten sie »von Hatay bis Kilis« 65 Prozent der Grenze zur Türkei, in die sie jederzeit einsickern könnten. Das gefährde nicht nur deren territoriale Integrität und Sicherheit, sondern auch die Syriens.¹

Russlands Kalkül

Russland, das im Rahmen des sogenannten Astana-Prozesses mit der Türkei und dem Iran für Deeskalation und Dialog zwischen den verfeindeten Seiten in Syrien eintritt, unterhielt bei Afrin einen Militärstützpunkt, den es zu Beginn der türkischen Angriffe »aus Sicherheitsgründen für die Soldaten« räumte. Einen weiteren Stützpunkt haben die Russen östlich von Aleppo zwischen Al-Bab und Manbidsch eingerichtet. Die Stützpunkte dienen einerseits der Vermittlung zwischen den Kurden und der syrischen Regierungsarmee, andererseits fungieren sie als Puffer zwischen den Kurden und der Türkei.

In Moskau hat man kein Interesse an einer Konfrontation mit Ankara. Um den Rückzug von Kampfverbänden wie der Fatah-Al-Scham-Front oder Ahrar Al-Scham zu garantieren, war die Türkei in die Deeskalationsvereinbarungen im Zuge des Astana-Prozesses einbezogen worden. Sie sollte die Randgebiete von Idlib kontrollieren und die genannten bewaffneten Gruppen zwingen, Angriffe und Kämpfe einzustellen. Tatsächlich aber kooperiert die türkische Armee mit den islamistischen Milizen und wertet sie als offizielle Sicherheitskräfte und politische Akteure auf. Beispiele dafür sind die »Freie Syrische Polizei« oder die »Freie Syrische Armee«, die beide auch von der Bundesrepublik gefördert werden. Die Unterstützung für die neue Polizeitruppe wurde allerdings eingefroren, nachdem bekanntgeworden war, dass mit den Geldern auch Dschihadisten in Lohn und Brot gebracht worden waren.²

Für Russland ist die Sicherung und der Erhalt der syrischen Grenzen erklärtes Ziel seines militärischen Engagements in dem Land. Die Kritik an der Anwesenheit der US-Armee in Syrien – die weder von einer UNO-Resolution gedeckt ist noch von der syrischen Regierung genehmigt wurde und somit gegen das Völkerrecht verstößt – ist in den vergangenen Wochen schärfer geworden. Moskau warf Washington vor, sich als Besatzungsarmee in Syrien aufzuhalten.

Kurz nachdem ein Sprecher der U. S. Army die Bildung einer 30.000 Mann starken Grenztruppe im Norden Syriens bekannt gegeben hatte, erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow: »Es ist eine Tatsache, dass US-Streitkräfte sich in einem großen Teil des syrischen Territoriums ernsthaft an der Bildung von alternativen Regierungsstellen beteiligen. Das widerspricht völlig ihren eigenen Verpflichtungen, die sie bei mehreren Gelegenheiten eingegangen sind. Einschließlich im UN-Sicherheitsrat, wo es um den Erhalt der Souveränität und der territorialen Integrität Syriens geht.«

Gemeint ist u. a. ein Programm des US-Außenministeriums, das bereits 2017 kleine Spezialteams in die von Kurden kontrollierten Gebiete, speziell nach Rakka, entsandt hat, um dort »die Rückkehr von Vertriebenen« vorzubereiten. Sie sollen die Minenräumung beaufsichtigen (dafür hat die Bundesrepublik zehn Millionen Euro in Aussicht gestellt) sowie Polizeikräfte und lokale Regierungsstrukturen (Lokalräte) aufbauen.⁴ Lawrow sagte, die USA verfolgten offenbar den Plan einer Teilung Syriens. Das widerspreche den UN-Resolutionen und unterminiere die Friedensverhandlungen in Genf.

Russland unterstützt nicht nur die syrische Regierung militärisch, sondern hat sich auch stets als Vermittler in dem Konflikt angeboten, Verhandlungen und Gespräche gefördert und sich für die Einbeziehung der Kurden in den politischen Prozess eingesetzt. Dass Moskau die Türkei dazu bewegen konnte, als Partner Russlands und Irans Teil des Astana-Prozess zu werden, darf als großer Erfolg gelten. Eine solche Partnerschaft könnte nach russischem Kalkül einen wichtigen Schritt darstellen, die von USA, EU und NATO verfolgten Pläne, den Nahen Osten nach ihren Interessen neu zu ordnen, wirksam zu durchkreuzen. Dies zu verhindern, sicherte zugleich auch den Erhalt Syriens in seinen gültigen Grenzen und entspräche den eigenen regionalen Interessen.

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Großmachtpläne der Türkei

Den Einmarsch der Türkei in den Nordwesten Syriens wollte Russland nicht verhindern. Vermutlich auch deshalb, weil er Ausdruck widersprüchlicher Interessen der NATO-Partnerländer in der Region ist. Ankara, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Stützpfeiler der Ostfront der NATO aufgerüstet, war 2011 von USA und EU zunächst als großes Vorbild für die Länder der »arabischen Revolution« gehandelt worden. Das ist Vergangenheit. Ernüchtert von den falschen Versprechungen über eine Aufnahme in die EU und erbost über die Entscheidung der USA, die von Ankara verfolgten kurdischen Volksverteidigungseinheiten zu Bodentruppen der »Anti-IS-Koalition« zu machen und entsprechend auszurüsten, hatte die Türkei sich den östlichen Regionalmächten Russland und Iran zugewandt.

Erdogan hat für den 100. Jahrestag der Gründung der Republik Türkei im Jahr 2023 das ehrgeizige Ziel ausgegeben, zu den zehn weltweit wichtigsten Wirtschaftsmächten zu gehören. Viel Zeit bleibt dafür nicht mehr. Den Krieg in Syrien mit eigenen Mitteln zu befeuern sollte ursprünglich dem Zweck dienen, die eigenen Getreuen in Gestalt der Muslimbruderschaft in Damaskus an die Macht zu bringen, um dadurch die türkische Einflusssphäre in der Region auszudehnen. Doch nach sieben Jahren Krieg liegt nicht nur die syrische Wirtschaft am Boden. Auch die Türkei hat ökonomische Rückschläge zu verkraften. Der Abschuss eines russischen Kampfjets zur Jahreswende 2015/16 führte zudem zu russischen Wirtschaftssanktionen, die dem Tourismusgeschäft und dem Außenhandel erheblich schadeten. Den gescheiterten Putsch im Juli 2016, dessen Hintergründe und Urheber noch immer unbekannt sind, bezeichnete Erdogan als »Segen Gottes«. In den Tagen und Wochen, die auf den Umsturzversuch folgten, ließ er Zehntausende tatsächliche oder vermeintliche Kritiker seiner Politik festnehmen oder entließ sie aus dem Staatsdienst. Die starke oppositionelle Volkspartei HDP wurde kriminalisiert, ihre Abgeordneten, Bürgermeister, Vorsitzenden wurden verhaftet. Die Armeeführung, in deren Reihen es vielfach Kritik am Anti-Syrien-Kurs der Regierung gegeben hatte, wurde nahezu komplett ausgetauscht.

Auf Druck der türkischen Wirtschaftsverbände stimmte Erdogan schließlich einer Mission des türkischen Auslandsgeheimdienstes zu, der den Kontakt zu Moskau wiederherstellte. Als Russland der Türkei neben der Aufhebung der Sanktionen auch neue Vereinbarungen über Öl- und Waffenlieferungen in Aussicht stellte, willigte Erdogan endgültig ein. NATO-Mitgliedschaft hin oder her, die Türkei kaufte ein russisches Raketenabwehrsystem und machte Zugeständnisse an der Syrien-Front.

Die Schlacht um Aleppo konnte im Dezember 2016 zugunsten der syrischen Armee und ihrer Verbündeten (Russland, Iran, Hisbollah) entschieden werden, die von Ankara unterstützten Kampfverbände wurden nach Idlib evakuiert. Türkische Truppen zogen zudem in den syrischen Grenzort Dscharabulus ein und besetzten in den folgenden Monaten das Gebiet zwischen Dscharabulus, Al-Bab und Asas mit eigenen Soldaten und/oder Kämpfern von verbündeten Kampfgruppen. Ziel dieser Operation war es, den Einfluss der kurdischen Volksverteidigungskräfte zu begrenzen. Die hatten das Ziel verfolgt, einen Korridor entlang der syrisch-türkischen Grenze von Kobani, Manbidsch, Asas bis nach Afrin zu öffnen, um die »Demokratische Föderation Nordsyrien« bis ans Mittelmeer auszudehnen.

Nun will die Türkei also das kurdische Projekt im Nordwesten Syriens durch eine 30 Kilometer breite Pufferzone ersetzen und türkische Fahnen von Afrin bis zur irakischen Grenze hissen. In die so entstehenden türkisch kontrollierten »Schutzzonen« könnten dann syrische Flüchtlinge zurückgebracht und unter die Kontrolle einer von der Muslimbruderschaft dominierten Interimsregierung gestellt werden. Mit entsprechenden »Sicherheitskräften« vor den Toren des vom syrischen Staat kontrollierten Aleppo blieben die Spannungen in Syrien für lange Zeit erhalten. Für Ankara könnte das ein Ausgleich dafür sein, dass weder die Muslimbruderschaft in Damaskus an die Macht gekommen ist noch über Aleppo wieder – wie zur Zeit des Osmanischen Reiches – die türkische Fahne weht.

US-Besatzung in Nordsyrien

Washington hat Ankara vor der Militäroperation in Afrin nicht deshalb gewarnt, weil eine Schutzzone im Norden Syriens als falsch erachtet würde. Die Kontrolle darüber soll allerdings in den Händen des US-Militärs bzw. von deren Verbündeten liegen. US-Außenminister Rex Tillerson sprach von vielen Missverständnissen hinsichtlich einer geplanten Grenzschutzarmee. Die werde es so nicht geben, versuchte er die Türkei zu beruhigen. Die USA wollten ein »friedliches, unabhängiges« Syrien, sagte er bei einer Rede vor dem Hoover Institut einen Tag vor dem türkischen Angriff.⁴ Ein Syrien »ohne Massenvernichtungswaffen« könne Millionen syrischer Vertriebener wieder aufnehmen. »Ein stabiles, vereintes und unabhängiges Syrien erfordert schließlich eine Post-Assad-Führung, um Erfolg zu haben«, so Tillerson. Für die USA sei es »lebensnotwendig«, sich weiter militärisch in der Region zu engagieren, um Terroristen zu bekämpfen und deren Wiederauferstehung zu verhindern. Washington werde »eine militärische Präsenz in Syrien« aufrechterhalten, nicht zuletzt »um Al-Qaida zu verhindern, die noch immer im Nordwesten Syriens eine substantielle Präsenz und Operationsbasen besitzt«.

Diesem von Tillerson erläuterten Plan haben sich in Europa zumindest Deutschland und Frankreich angeschlossen. In Abstimmung mit Israel und Saudi-Arabien arbeiten sie seit Jahren an einer Schwächung Irans. Syrien – seit 1979 strategisch mit dem Iran verbunden und in den Augen des Westens und seiner Partner Ziel einer »schiitischen Expansion«⁵ – soll entlang ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten destabilisiert werden. Eine von Kurden angestrebte »Demokratische Föderation Nordsyrien« bietet dabei eine gute Grundlage und wird daher militärisch, politisch und finanziell unterstützt.

Der Türkei könnte von den USA und ihren EU-Partnern möglicherweise Idlib und/oder Afrin zugestanden werden. In Idlib hat bereits – mit Hilfe einer vom oppositionellen Syrischen Nationalrat (mit Sitz in Istanbul) selbst gewählten Interimsregierung – der Aufbau eigener Verwaltungsstrukturen begonnen. USA und EU wollen die Kontrolle über die von Kurden beanspruchten Gebiete der Provinzen Aleppo, Rakka und Hasaka behalten. Da dies einen Bruch mit dem Völkerrecht darstellt, spricht man in Washington, Brüssel, Paris und Berlin darüber sehr ungern in der Öffentlichkeit.

Seit 2014 sind in dem Gebiet mindestens 13 Militärbasen entstanden, auf denen die USA und ihre Verbündeten stationiert sind. Weitere Stützpunkte sind im Bau, die US-Armee festigt ihre Präsenz. Die »Demokratische Föderation Nordsyrien«, die damit de facto unter Besatzung steht, soll sich auf die Gebiete östlich des Euphrats beschränken. Dort liegt nicht nur die Kornkammer Syriens, sondern auch ein großer Teil der syrischen Ölressourcen. Außerdem wird von dieser Gegend aus die Wasserversorgung Nordostsyriens kontrolliert. Insgesamt 14 Dämme entlang des Euphrat und seiner Nebenflüsse wie des Khabur stehen heute de facto unter kurdischer bzw. US-amerikanischer Kontrolle.

Für die USA und die EU gilt heute in Syrien, was 1991 für die kurdischen Gebiete im Nordirak zutraf: Damals sollte die Zentralregierung in Bagdad destabilisiert werden, heute soll ein kurdischer Pufferstaat den syrischen Staat schwächen. Alle Staaten, in denen Kurden leben, könnten nach diesem Vorbild mit permanenter Unruhe rechnen. So unterschiedlich die Interessen Irans, Iraks, Syriens und der Türkei daher auch sind, die Schaffung eigenständiger kurdischer Staatsstrukturen – wie immer sie aussehen mögen – werden diese Länder nie akzeptieren.

Dass die Kurden mit ihrem Streben nach Selbstbestimmung und Autonomie nur Spielfiguren sind, zeigte sich im Oktober 2017 im Nordirak. In ihrer Gegnerschaft gegen das dort durchgeführte Unabhängigkeitsreferendum zogen Teheran und Bagdad alle Register. Die Kurden verloren die Ölfelder von Kirkuk und die Kontrolle der Grenzübergänge, die Flughäfen wurden geschlossen, und der Iran verhängte Wirtschaftssanktionen gegen Erbil. Die Türkei – jahrelang enger Partner des nordirakischen Präsidenten Barsani – drohte, kein Öl mehr aus den Kurdengebieten zu importieren und alle Flüge dorthin einzustellen.

Was für die politisch wenig revolutionären nordirakischen Kurden gilt, trifft auf die von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) beeinflussten syrischen Kurden der Partei der demokratischen Union (PYD) schon lange zu. Ankara will sie vernichten und hat entlang der Grenze eine Mauer gebaut, Olivenbäume auf dem Land syrisch-kurdischer Bauern zerstört und die Grenzen für Hilfsgüter gesperrt. Die jetzige Invasion war lange angekündigt und folgt – unter Bruch völkerrechtlicher Bestimmungen – der Logik der Interessen des türkischen Staates.

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/326128.neue-runde-im-gro%C3%9Fen-spiel.html

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