Was ist los in Nordafrika, im Nahen & Mittleren Osten?

Quelle: http://de.internationalism.org/IKSonline2011_wasistlosnordafrika0311

Die Notwendigkeit der gemeinsamen Klärung

Die gegenwärtigen Ereignisse im Mittleren Osten und Nordafrika sind von historischer Bedeutung, deren Folgen bis jetzt noch nicht klar abzusehen sind. Aber es ist wichtig, eine Diskussion darüber anzustoßen, die es den Revolutionären ermöglichen wird, einen kohärenten Rahmen der Analyse zu entfalten. Die folgenden Punkte stellen keineswegs diesen Rahmen dar, noch liefern sie eine detailierte Beschreibung der Ereignisse, sondern lediglich einige grundsätzliche Eckpunkte als Beitrag zur Debatte.

Eine Welle von Kämpfen … und ihre Unterschiede

1. Seit 1848 oder 1917-1919 haben wir solch eine breitgefächerte, gleichzeitige Welle von Revolten nicht mehr gesehen. Das Epizentrum der Bewegung lag in Nordafrika (Tunesien, Ägypten und Libyen, aber auch Algerien und Marokko), Proteste gegen die bestehenden Regime sind im Gaza-Streifen, Jordanien, Irak, Iran, Jemen, Bahrain und Saudi-Arabien ausgebrochen, während in einer Reihe anderer repressiver arabischer Staaten, insbesondere Syrien, eine erhöhte Alarmbereitschaft herrscht. Und das Echo dieser Proteste ist auch in anderen Teilen Afrikas zu vernehmen: Sudan, Tansania, Zimbabwe, Swaziland… Den Widerhall dieser Revolten spürt man auch bei den Demonstrationen gegen korrupte Regierungen und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Kroatien, bei den Spruchbändern und Slogans der Studentendemos in Großbritannien und dem Arbeiterkampf in Wisconsin, und sicher auch in vielen anderen Ländern. Das heißt nicht, dass all diese Bewegungen in der arabischen Welt identisch wären, weder auf der Ebene ihres Inhaltes, ihrer Forderungen, noch der Reaktion der herrschenden Klasse, aber es gibt sicher eine Reihe von Gemeinsamkeiten, weshalb man von dem Phänomen insgesamt sprechen kann.
Der historische Kontext

2. Der historische Rahmen, in dem sich diese Ereignisse abspielen, ist folgender:

* Eine tiefgreifende, ja die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus, welche die schwächeren arabischen Länder mit besonderer Wucht getroffen hat, und die jetzt schon Millionen Menschen in bittere Armut stürzt, wobei die Aussichten sich immer mehr verschlechtern. Die Jugend, die im Gegensatz zu vielen „überalterten“ Industriegesellschaften einen großen Bevölkerungsanteil ausmacht, ist besonders hart durch die Arbeitslosigkeit und die Perspektivlosigkeit der unzähligen gebildeten aber auch ungebildeten jungen Leute getroffen. Bei allen Protesten stand überall die Jugend an vorderster Front.

* Das unerträglich korrupte und repressive Wesen all dieser Regime in der Region. Während eine lange Zeit das brutale Vorgehen der Geheimpolizei oder der Armee die Bevölkerung atomisiert oder terrorisiert konnte, haben diese Waffen des Staates nun mit dazu beigetragen, dass der Wille in der Bevölkerung, zusammenzukommen und gemeinsam zu widerstehen, wächst. Das war besonders ersichtlich in Ägypten, als Mubarak seine Trupps von Schlägern und Zivilpolizisten auf die Menschen hetzte, die den Tahrir-Platz besetzten, um diese zu terrorisieren. Diese Provokationen verstärkten nur die Entschlossenheit der Menschen, sich zu verteidigen; statt der erhofften Einschüchterung strömten noch mehr Menschen herbei. Die empörende Korruption und die Gier der herrschenden Cliquen, die ungeheure Mengen an privatem Reichtum gescheffelt haben, während der Großteil der Menschen jeden Tag ums Überleben kämpft, hat die Flammen der Rebellion weiter angefacht, sobald die Leute die Angst verloren hatten. Auf dieser Ebene ist wiederum die Rolle der neuen Generation ausschlaggebend gewesen; in diesem Sinn haben auch die Jugendrebellion in Griechenland vor zwei Jahren, die Studentenkämpfe in Großbritannien und Italien, der Kampf gegen die Rentenreform in Frankreich ihren Einfluss in der “arabischen” Welt hinterlassen, insbesondere im Zeitalter von Facebook und Twitter, wo es der herrschenden Klasse viel schwerer fällt, ein dichtes Black-out über die Kämpfe gegen die bestehenden Verhältnisse zu verhängen.

* Dieser plötzliche Verlust der Angst, der so stark ins Auge stach, ist ein Ergebnis nicht nur der Änderungen auf örtlicher und regionaler Ebene, sondern einer gewandelten Stimmung der Unzufriedenheit und des offenen Klassenkampfes auf internationaler Ebene. In Anbetracht der Wirtschaftskrise zeigen die Ausgebeuteten und die Unterdrückten immer weniger Bereitschaft, die von ihnen verlangten Opfer zu bringen.

Zum Klassencharakter dieser Bewegungen…

3. Der Klassencharakter dieser Bewegungen ist nicht einheitlich und unterscheidet sich von Land zu Land und je nach Phase. Insgesamt jedoch kann man sie als Bewegungen der nichtausbeutenden Klassen, als Sozialrevolten gegen den Staat bezeichnen. Im Allgemeinen stand die Arbeiterklasse nicht an der Spitze dieser Rebellion, aber sie hat sicherlich eine wesentliche Rolle gespielt und Einfluss ausgeübt, was sich anhand der Organisationsmethoden der Bewegung und in einigen Fällen durch die spezifische Entwicklung der Arbeiterkämpfe wie die Streiks in Algerien und vor allem die große Streikwelle in Ägypten feststellen lässt, die ein Schlüsselfaktor bei der Entscheidung, Mubarak fallen zu lassen, waren (siehe dazu andere Artikel in unserer Presse). In den meisten Ländern ist die Arbeiterklasse nicht die einzige unterdrückte Klasse. Die Bauernschaft und andere Schichten, die aus noch älteren Produktionsformen stammen, haben noch ein großes Gewicht auf dem Lande, auch wenn sie sehr zersplittert und durch Jahrzehnte kapitalistischen Niedergangs ruiniert sind. Dagegen lebt die Arbeiterklasse in den Städten, in denen das Zentrum der Revolten lag, Seite an Seite mit einer zahlenmäßig stärkeren Mittelschicht, die proletarisiert wird, aber dabei immer noch ihre Besonderheiten aufrechthält, und einer Masse von Slumbewohnern, die teilweise aus Arbeitern, teilweise aus kleinen Händlern und einem Heer von ‚lumpenisierten’ Leuten bestehen. Selbst in Ägypten, wo es die am stärksten gebündelte und erfahrenste Arbeiterklasse gibt, haben Augenzeugen hervorgehoben, dass die Proteste am Tahrir-Platz “alle Klassen” mobilisiert haben, mit Ausnahme der höheren Chargen des herrschenden Regimes. In anderen Ländern war das Gewicht der nicht-proletarischen Schichten viel größer als während der Kämpfe in den meisten zentralen Ländern.

Die Notwendigkeit, das Klassenwesen der Bewegung besser zu erfassen

4. Bei dem Versuch, das Klassenwesen dieser Rebellionen zu begreifen, muss man deshalb zwei symmetrische Fehler vermeiden: auf der einen Seite all diese Massen mit dem Proletariat in einen Topf schmeißen (eine Position, die am deutlichsten von der GCI (Groupe Communiste Internationaliste) verkörpert wird) und auf der anderen Seite die Verwerfung all des Positiven in den Revolten, die nicht ausdrückliche Arbeiterrevolten sind. Wir müssen dabei auf die Vergangenheit zurückkommen wie die Ereignisse im Iran Ende der 1970er Jahre, als es eine Volkserhebung gab, bei der die Arbeiterklasse eine Zeitlang eine führende Rolle spielen konnte, obwohl dies am Ende nicht reichte, um zu verhindern, dass die Bewegung von den Islamisten einverleibt wurde. Auf einer größeren historischen Ebene ist das Problem der Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und allgemeinen gesellschaftlichen Revolten auch das Problem des Staats in der Übergangsperiode, der aus der Bewegung aller nicht-ausbeutenden Klassen hervorgeht, gegenüber dem die Arbeiterklasse aber ihre Selbständigkeit bewahren muss

Die Methoden des Kampfes der Arbeiterklasse – ein Bezugspunkt?

5. In der Russischen Revolution 1917 wurden die Sowjets durch die Arbeiter ins Leben gerufen, aber sie stellten auch für die anderen unterdrückten Schichten ein Modell für ihre Organisierung dar. Ohne das richtige Augenmaß zu verlieren – weil es noch ein weiter Weg ist bis zum Erreichen einer revolutionären Situation, in der die Arbeiterklasse eine klare politische Führung gegenüber den anderen Schichten übernehmen kann -, kann man sehen, dass die Methoden des Kampfes der Arbeiterklasse die sozialen Revolten in der arabischen Welt beeinflusst haben:

* durch Tendenzen hin zur Selbstorganisierung, die am deutlichsten durch die Nachbarschaftsschutzkomitees zum Ausdruck kamen, die als Reaktion auf die Taktik des ägyptischen Regimes Verbrecherbanden auf die Bevölkerung zu hetzen, gegründet wurden. Oder durch die „Delegiertenstruktur“ einiger der größten Versammlungen auf dem Tahrir-Platz, überhaupt in dem ganzen Prozess kollektiver Diskussion und Entscheidungsfindung,
* Durch die Besetzung von Raum und Plätzen, die normalerweise vom Staat kontrolliert werden, um einen zentralen Brennpunkt für Versammlungen und der Organisierung auf breiterer Ebene zu schaffen,
* ein kollektives Eintreten für die Notwendigkeit der entschlossenen Selbstverteidigung gegen Schlägertypen und Polizisten, die von dem Regime gegen sie gehetzt wurden, wobei man gleichzeitig aber Gewalt, Zerstörung und Plünderung als Selbstzweck vermeiden wollte,
* bewusste Anstrengungen, sektiererische und andere Spaltungen zu überwinden, die von dem Regime immer auf eine ganz zynische Weise manipuliert wurden: Spaltungen zwischen Christen und Muslimen, zwischen Schiiten und Sunniten, religiösen und weltlichen Gruppen, Männern und Frauen,
* zahlreiche Versuche der Verbrüderung mit den unteren Rängen der Rekruten.

Es ist kein Zufall, dass diese Tendenzen sich am stärksten in Ägypten entwickelten, wo die Arbeiterklasse über eine lange Tradition von Kämpfen verfügt und in einer entscheidenden Phase der Bewegung als eine eigenständige Kraft in Erscheinung trat und eine Reihe von Kämpfen entfaltete, welche wie die von 2006-7 als die „Keime“ des zukünftigen Massenstreiks angesehen werden können. Diese enthielten nämlich viele der wichtigsten Merkmale desselben: die spontane Ausdehnung von Streiks und Forderungen von einem Bereich auf den anderen, die unnachgiebige Verwerfung der staatlichen Gewerkschaften und bestimmte Tendenzen zur Selbstorganisierung, das Erheben von politischen und ökonomischen Forderungen. Daran erkennt man in Umrissen die Fähigkeit der Arbeiterklasse als die Tribüne, der Dreh- und Angelpunkt für all die Unterdrückten und Ausgebeuteten aufzutreten und die Perspektive einer neuen Gesellschaft anzubieten.

Das Gewicht der Illusionen und andere Gefahren…

6. All diese Erfahrungen sind wichtige Schritte bei der Entwicklung eines echten revolutionären Bewusstseins. Aber der Weg in dieser Richtung ist noch sehr lang, und dabei stehen noch viele Hindernisse im Weg: Illusionen und ideologische Schwächen.

* Illusionen – vor allem über die Demokratie – sind noch sehr stark in den Ländern, wo eine Mischung von militärischen Tyrannen und korrupten Monarchien regierte, wo die Geheimpolizei überall gegenwärtig ist und Verhaftungen, Folter und Tötung von Dissidenten an der Tagesordnung sind. Diese Illusionen bieten der demokratischen „Opposition“ eine Gelegenheit, sich als eine Regierungsalternative anzubiedern. El Baradei und die Muslim-Bruderschaft in Ägypten, die Übergangsregierung in Tunesien, der Nationalrat in Libyen… In Ägypten macht man sich vor allem große Illusionen über die Armee als eine Kraft, die „auf Seiten des Volkes“ stehe, obgleich jüngste Repressionsmaßnahmen seitens der Armee gegen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sicherlich eine Minderheit von Leuten zum Nachdenken zwingen werden.
* Ein wichtiger Aspekt des demokratischen Mythos in Ägypten ist die Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften, die von vielen der militantesten Arbeitern geteilt wird, die zu Recht die Auflösung der diskreditierten Gewerkschaften verlangt haben.
* Illusionen über Nationalismus und Patriotismus, die ersichtlich wurden durch die Tatsache, dass die Nationalfahne als ein Symbol der ‘Revolutionen’ in Ägypten und Tunesien geschwenkt wurde oder in Libyen der Einsatz der alten monarchistischen Fahne als ein Emblem all der Unterdrückten durch das Gaddafi-Regime. Oder die Beschimpfung Mubaraks als eines Agenten des Zionismus auf vielen Spruchbändern in Ägypten zeigt, dass die Israel-Palästina-Frage ein wichtiger Hebel zur Ablenkung vom Klassenkampf und der Mobilisierung für imperialistische Konflikte bleibt. Dennoch spürte man keinen starken Drang, die palästinensische Frage in den Vordergrund zu stellen, da die Herrschenden das Leiden der Palästinenser schon so lange ausgeschlachtet haben, um von dem Leiden abzulenken, das sie ihrer eigenen Bevölkerung aufgezwungen haben, und es gab sicherlich ein Fünkchen Internationalismus, als man Nationalfahnen anderer Länder schwenkte, um die Solidarität mit den Revolten in diesen Ländern zum Ausdruck zu bringen. Das Ausmaß der Revolten in der ‚arabischen’ Welt und darüber hinaus ist eine Verdeutlichung der materiellen Wirklichkeit des Internationalismus, aber die patriotische Ideologie ist sehr anpassungsfähig, und bei diesen Ereignissen sehen wir, wie geschickt sie sich ein Volks- und demokratisches Gewand überstreifen kann.
* Illusionen über Religion. Öffentliche Gebete und Moscheen werden zu Treffpunkten für die Organisierung der Rebellion. In Libyen hat man gesehen, dass islamistische Gruppen (die eher im Land entstanden sind, als dass sie mit Al Quaida verbunden wären, wie Gaddafi behauptet) eine wichtige Rolle seit Beginn der Revolte spielen. Zusammen mit der Rolle von Stammesloyalitäten spiegelt dies die relative Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen wider sowie die Rückständigkeit des Landes und dessen staatlicher Strukturen. Aber da die radikalen Islamisten mit der Bin-Laden-Variante sich als die Erlösung aus der Misere der Massen in den „muslimischen Ländern“ dargestellt haben, haben die Revolten in Tunesien und Ägypten, und sogar in Libyen und den Golfstaaten wie Jemen und Bahrain gezeigt, dass die Jihad-Gruppen mit deren Praxis kleiner terroristischer Zellen und deren vergiftender Ideologie von dem massiven Charakter der Bewegung und deren tiefgreifenden Streben nach Überwindung der sektiererischen Spaltungen ziemlich marginalisiert worden sind.

Zur Tragödie in Libyen…

7. Die gegenwärtige Lage in Nordafrika und im Nahen & Mittleren Osten ist noch im Fluss. Zum Zeitpunkt des Schreibens erwartet man Proteste in Riad, auch wenn das saudische Regime schon jegliche Demonstrationen verboten hat, weil sie den Gesetzen der Scharia widersprechen. In Ägypten und Tunesien, wo die ‚Revolution’ angeblich schon triumphiert hat, kommt es ständig zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und dem nun „demokratischen“ Staat, der von den mehr oder weniger gleichen Kräften verwaltet wird, die den Laden vor dem Abgang der „Diktatoren“ führten. Die Streikwelle in Ägypten, die viele ihrer Forderungen schnell durchsetzen konnte, scheint jetzt abgeebbt zu sein. Aber weder die Arbeiterkämpfe noch die breitere soziale Bewegung haben irgendeinen größeren Rückschlag erlitten. Es gibt Hinweise auf breit gefächerte Diskussionen und Nachdenken zumindest in Ägypten. Aber die Dinge haben in Libyen einen ganz anderen Verlauf genommen. Was anfangs als eine echte gesellschaftliche Revolte von unten anfing, mit unbewaffneten Zivilisten, die mutig Kasernen stürmten und den Sitz der sogenannten ‚Volkskomitees’ anzündeten, insbesondere im Osten des Landes, ist schnell zu einem sehr blutigen und richtigen ‚Bürgerkrieg’ zwischen bürgerlichen Fraktionen ausgeartet. Die imperialistischen Mächte schweben wie Geier über den Massakern. Aus marxistischer Sicht ist dies ein Beispiel der Umwandlung eines beginnenden Bürgerkrieges – im wahren Sinne einer direkten und gewaltsamen Konfrontation zwischen den Klassen – in einen imperialistischen Krieg. Das historische Beispiel Spaniens – das trotz wesentlicher Unterschiede beim globalen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und der Tatsache, dass die anfänglichen Erhebungen gegen Franco’s Staatsstreich unverkennbar proletarischen Charakters waren – belegt, dass die nationale und internationale Bourgeoisie in solchen Situationen sowohl ihre parteiinternen, als auch nationalen und internationalen Rivalitäten vorantreibt und die Möglichkeiten sozialer Revolte ausmerzt.

8. Der Hintergrund für diese Wende der Ereignisse in Libyen ist die extreme Rückständigkeit des libyschen Kapitalismus, der mehr als 40 Jahre lang von der Gaddafi-Clique hauptsächlich durch dessen Terrorapparat unter seiner direkten Führung beherrscht wurde. Diese Struktur hinderte die Armee daran als eine Kraft zu wirken, welche das nationale Interesse über das Partikularinteresse bestimmter Führer oder Fraktionen stellte, wie wir in Tunesien oder Ägypten gesehen haben. Gleichzeitig wird das Land von regionalen und Stammesspaltungen zerrissen; diese haben eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung für oder Gegnerschaft zu Gaddafi gespielt. Eine „nationale“ Spielart des Islamismus scheint auch seit Beginn der Revolte eine Rolle gespielt zu haben, obgleich die Rebellion anfangs einen breiteren gesellschaftlichen Ansatz hatte als nur die Bestimmung durch Stammes- oder islamistische Motive. Die wichtigste Industrie in Libyen ist die Ölindustrie, und die Unruhen im Land haben den Ölpreis stark beeinflusst. Aber ein Großteil der in der Ölindustrie beschäftigten Arbeiter sind Migranten aus Europa, den anderen Ländern des Mittleren Ostens, aus Asien und Afrika. Und obgleich es anfangs Berichte über Streiks in diesem Wirtschaftsbereich gab, ist die Massenflucht der ausländischen Arbeiter ein deutliches Anzeichen dafür, dass sie sich kaum mit dieser ‚Revolution’ identifizieren können, in der die Nationalfahne geschwenkt wird. Von Verfolgungen und Übergriffen gegen schwarze Arbeitskräfte durch „Rebellen“ wurde berichtet, da es weitverbreitete Gerüchte gab, dass einige der angeheuerten Söldner aus schwarzafrikanischen Staaten stammen sollten, wodurch sich ein allgemeines Misstrauen gegenüber allen schwarzafrikanischen Migranten ausbreitete. Die Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen ist somit ein entscheidendes Merkmal bei der negativen Entwicklung der Lage dort.

Imperialistische Geier vor Nordafrika…

9. Ein klarer Beleg, dass die ‘Rebellion’ zu einem Krieg zwischen bürgerlichen Lagern entartet ist, ist die überstürzte Abkehr von hochrangigen Offiziellen von Gaddafi (dazu gehören Botschafter im Ausland, Armee- und Polizeioffiziere und Beamte). Die militärischen Befehlshaber insbesondere sind bei der „Regularisierung“ der bewaffneten Gaddafi-Gegner immer mehr in den Vordergrund gerückt. Aber das vielleicht deutlichste Zeichen ist die Entscheidung der „internationalen Gemeinschaft“, sich auf die Seite der ‚Rebellen’ zu stellen. Der Übergangsnationalrat in Bengasi ist von Frankreich schon als die Stimme des neuen Libyens anerkannt worden, und eine winzige Militärintervention hat auch schon in der Form der Entsendung von „Beratern“ für die Gaddafi-Gegner stattgefunden. Nachdem man schon diplomatisch eingegriffen hatte, um den Rücktritt von Ben Ali und Mubarak zu beschleunigen, fühlten sich die USA und Großbritannien durch das Taumeln des Gaddafi-Regimes am Anfang der Protestbewegung ermuntert. So kündigte zum Beispiel William Hague überstürzt an, dass sich Gaddafi schon auf der Flucht nach Venezuela befände. Nachdem Gaddafis Kräfte dabei waren, die Oberhand zu gewinnen, wurde das Gerede über die Einrichtung einer Flugverbotszone oder anderer Formen militärischen Eingreifens immer lauter. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels scheint es jedoch tiefgreifende Divergenzen zu geben innerhalb der EU und der NATO, wobei Großbritannien und Frankreich am stärksten für ein militärisches Eingreifen plädieren, und die USA und Deutschland am stärksten zögern. Die Obama-Administration ist natürlich nicht aus Prinzip gegen militärische Interventionen, aber sie möchte sich nicht der Gefahr aussetzen, ein weiteres militärisches Fiasko in der arabischen Welt zu erleben. Es kann auch sein, dass einige Teile der herrschenden Klasse auf der Welt meinen, dass Gaddafis „Vorgehensweise“ der Terrorisierung der Massen eine Methode sein kann, eine abschreckende Wirkung vor weiteren Unruhen in der Region auszuüben. Eins ist jedoch sicher: Die Ereignisse in Libyen wie auch die ganze Entwicklung in der Region haben die groteske Heuchelei der Herrschenden dieser Welt an den Tag gelegt. Nachdem man jahrelang Gaddafis Libyen als eine Brutstätte des internationalen Terrorismus beschimpft hatte (was es natürlich auch war), freuten sich die Führer von Ländern wie die USA oder Großbritannien, nachdem Gaddafi einen scheinbaren Sinneswandel vollzogen hatte und seine Massenvernichtungswaffen 2006 aufgab, weil die Regierungen dieser Länder nach Rechtfertigungen suchten, ihre Haltung gegenüber den angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins zu begründen. Insbesondere Tony Blair hatte große Eile, den früheren “verrückten Terroristenführer” zu umarmen. Nur wenige Jahre später wird Gaddafi wieder ein verrückter Terroristenführer genannt, und diejenigen, die ihn vorher unterstützt haben, müssen jetzt strampeln, um sich von ihm zu distanzieren. Und dies ist nur eine Version der gleichen Geschichte – all die neulich verjagten oder noch immer an der Macht befindlichen arabischen Diktatoren sind von den USA und anderen Mächten loyal unterstützt worden, und diese haben bislang wenig Interesse an den „demokratischen Bestrebungen“ der Menschen in Tunesien, Ägypten, Bahrain oder Saudi-Arabien gezeigt. Die durch die Preissteigerungen und den Gütermangel verursachten Straßenproteste gegen die irakische Regierung, welche von den USA in den Sattel gehievt wurde, wie auch gegen die gegenwärtigen Herrscher im kurdischen Irak, auf die die Regierung mit Repression antwortete, zeigen auch, wie verlogen die Versprechen des „demokratischen Westens“ sind.

Wird die Demokratie einen neuen Aufschwung erfahren? Zu den Perspektiven…

10. Einige internationalistische Anarchisten in Kroatien meinten auf www.libcom.org, dass die Ereignisse in den arabischen Staaten aus ihrer Sicht wie eine Neuauflage der Ereignisse in Osteurope 1989 erscheinen, wo als die Bestrebungen nach Wandel durch den Begriff “Demokratie” sterilisiert wurden und keine Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse eingetreten ist. Dies ist eine sehr legitime Sorge, wenn man das große Gewicht der demokratischen Verschleierungen innerhalb dieser neuen Bewegung betrachtet, aber verliert man damit nicht aus den Augen, dass es einen wesentlichen Unterschier gibt auf der Ebene der Konfiguration der Klassen weltweit. Als der Ostblock 1989 zusammenbrach, hatte die Arbeiterklasse den Höhepunkt einer Reihe von Kämpfen, die sich seinerzeit politisch nicht weiterentwickelt hatten, überschritten. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die danach ausgelösten Kampagnen über den angeblichen Tod des Kommunismus und das Ende des Klassenkampfes sowie das Unvermögen der Arbeiter Osteuropas auf dem eigenen Klassenterrain zu reagieren, bewirkten einen längeren Rückschlag für die Arbeiterklasse international. Obgleich die stalinistischen Regime in Wirklichkeit unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise litten, gab es für die Länder im Westen noch immer einen gewissen wirtschaftlichen Spielraum, um den Eindruck zu erwecken, dass der globale Kapitalismus vor einer neuen Blüte stand. Heute stehen wir vor einer anderen Lage. Das globale Ausmaß der kapitalistischen Krise ist nie so offensichtlich gewesen, so dass die Arbeiter heute im Wesentlichen überall auf der Welt erkennen müssen, dass sie vor den gleichen Problemen stehen: Arbeitslosigkeit, steigenden Preisen, mangelnden Perspektiven innerhalb dieses Systems. Und während der letzten sieben, acht Jahre ist es zu einem langsamen aber richtigen Wiedererstarken der Arbeiterkämpfe auf der ganzen Welt gekommen. An der Spitze dieser Kämpfe stand meistens eine neue Generation von ArbeiterInnen, die weniger durch die Rückschläge der 1980er und 1990er Jahre geprägt war, und aus denen weltweit politisierte Minderheiten hervorgegangen sind. In Anbetracht dieser tiefgreifenden Unterschiede besteht die Aussicht, dass die Ereignisse in der arabischen Welt keine negative Auswirkungen auf den Klassenkampf in den zentralen Ländern haben, sondern zur allgemeinen Verstärkung des Klassenkampfes beitragen werden.

– Durch die Bekräftigung der Macht der massiven und illegalen Straßenaktionen; deren Fähigkeit, dafür zu sorgen, dass die Herrschenden der Welt ihre Selbstbeherrschung verlieren.

– Indem die bürgerliche Propaganda von den „Arabern“ als eine gleichförmige Masse von gehirnlosen Fanatikern durchkreuzt wird, und die Fähigkeit der Massen dieser Regionen zum Diskutieren, Nachdenken und Selbstorganisierung deutlich geworden ist.

– Indem auch die Glaubwürdigkeit der Führer der zentralen Länder untergraben wird, deren Bestechlichkeit und Skrupellosigkeit durch deren Wendungen gegenüber der arabischen Welt entblößt wurde.

Diese sowie andere Punkte werden politisierten Minderheiten eher in die Augen stechen als der Mehrheit der Arbeiter in den Industriestaaten, aber langfristig werden sie zur wirklichen Vereinigung des Klassenkampfes über alle nationalen und kontinentalen Grenzen hinweg beitragen. Aber dies schmälert nicht die Verantwortung und die Last der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern, die jahrelange Erfahrung mit den Freuden der ‚Demokratie’ und ‚unabhängigen Gewerkschaften’ haben, deren historische und politische Traditionen tief, wenn nicht gar breit verwurzelt und im Herzen des weltimperialistischen Systems gebündelt sind. Die Fähigkeit der Arbeiterklasse in Nordafrika und im Nahen & Mittleren Osten mit den demokratischen Illusionen zu brechen und den verarmten Massen der Bevölkerung einen anderen Weg aufzuzeigen, hängt von der Fähigkeit der Arbeiter in den zentralen Ländern ab, ihnen ein Beispiel eines selbstorganisierten und politisierten Arbeiterkampfes zu geben. IKS, 11. 3.2011

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