Volksmotion “KEIN ZWEITES BOA-DEBAKEL”

Kein zweites Boa-Debakel durch die Wohnüberbauung bei der ehemaligen Butterzentrale

An die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger der Stadt Luzern

Volksmotion Wohnüberbauung Butterzentrale

Informationsblatt Theater Pavillon

Auf dem Areal der ehemaligen Butterzentrale im Tribschenquartier sollen in unmittelbarer Nähe zum Fussballplatz des FC Kickers, zum Theater Pavillon Luzern und zum Luzerner Jugendkulturhaus Treibhaus Wohnungen gebaut werden. Die Konflikte wegen Lärmemissionen mit den zukünftigen Anwohnern sind vorprogrammiert. Die selbe Problematik hat zur Schliessung des Kulturzentrums Boa geführt.

Wir wehren uns nicht gegen den Hauptsitz der Emmi und die ca. 80 Wohnungen zur Seeseite, aber wir wehren uns gegen die geplanten rund 20 Wohnungen im Wohnblock “C” in 12 Meter Distanz zum Fussballplatz des FC Kickers, 40 Meter Distanz zum Theater Pavillon Luzern und 50 Meter Distanz zum Jugendhaus Treibhaus.

Helfen Sie mit Ihrer Unterschrift mit, den blühenden Sport- und Kulturbetrieb am Spelteriniweg zu erhalten und zu schützen.

Weiter Infos siehe Anhang (am Anfang des Textes) oder Beitrag SF DRS Schweiz Aktuell vom 5. April 2011:

So können Sie uns unterstützen:

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  • Lesen sie die ganze Volksmotion
  • Drucken Sie nur die erste Seite der Volksmotion aus
  • Unterschreiben Sie: Wichtig: Handschriftliche vollständige Angaben!

und falls sie mögen:

  • Sammeln Sie weitere Unterschriften!

Das Wichtigste:

  • Senden Sie uns das Formular bis zum Mittwoch, 20. April 2011 (Mittwoch in einer Woche!) ganz – oder auch nur teilweise ausgefüllt zurück an:

Theater Pavillon Luzern
Spelteriniweg 6
6005 Luzern

Unterzeichnen können nur Stimmberechtigte mit Wohnsitz in der Stadt Luzern

Einreichung der Volksmotion, Donnerstag, 21. April, 16.30 h, Haupteingang Stadthaus, Hirschengraben 17

Bei folgenden Kulturorganisationen liegen die Motionsformulare ab Mittwoch, 13. April zur Unterschrift auf:

Kultur-ForumBruchstrasse 53
MO bis DO, 13 bis 17 Uhr; FR geschlossen

Kleintheater am Bundesplatz, Kasse
Mo bis Sa, 15 bis 19 Uhr

Südpol
Bei Bistroöffnungszeiten (MO-FR 11-15h)
und Veranstaltungen (Infos auf www.sudpol.ch)
jeweils an der Bar oder im Büro

Jugendhaus Treibhaus, Bar
am Spelteriniweg

Theater Pavillon Luzern, Milchkasten

Ganz herzlichen Dank für Ihre Unterstützung!

Das Motionskomitee

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Mehr Musikgehör für ÖV, Fuss- und Veloverkehr

Samstag, 16. April 2011, 10.30-12.00, Pavillon am Schweizerhofquai

Der Stadtrat soll endlich mehr tun für ÖV und Velo! “Jolly and the Flytrap” setzen mit einem gratis Strassenmusik-Konzert ein verkehrspolitisches Zeichen. Ein halbes Jahr nach der Annahme des Reglements für eine nachhaltige städtische Mobilität müssen die wohlklingenden Worte dieses Gesetzes jetzt auch in hör- und spürbare Taten umgesetzt werden. Alle sind herzlich eingeladen.

Organisation des Konzerts: UmverkehR und Jollys.

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Was geht in Cote d’Ivoire vor sich?

via: http://www.linkezeitung.de

Nach den jüngsten Präsidentschaftswahlen hatten sowohl der Amtsinhaber Laurent Gbagbo als auch Oppositionschef Ouattara den Sieg beansprucht und sich bereits vereidigen lassen.

Die westlichen Industriestaaten bestehen auf einem Rückzug Gbagbos, der auf antikoloniale Stimmungen in der Bevölkerung bauen kann und deswegen in der EU und den USA als unzuverlässiger Partner eingestuft wird.

Ouattara hingegen ist als ehemaliger IWF-Vizedirektor selbstverständlich ein Präsidentschaftskandidat des Westens!

Er arbeitete er viele Jahre zwischen 1968 und 1990 und von 1994 bis 1999 beim Internationalen Währungsfonds (IWF). In den 1980er Jahren leitete er dessen Afrika-Abteilung und war damit an exponierter Stelle an der Durchsetzung der damaligen Strukturanpassungsprogramme beteiligt, die im Ergebnis die soziale Infrastruktur der betroffenen Länder zugrunde richteten, weil diese die Einfuhr von Lebensmitteln aus der EU (meist in diesen Ländern überschüssiger Produkte!) gestatteten und damit (wie übrigens damals auch in Ruanda!!) die einheimische Landwirtschaft zu zerstören drohen.

Zwischen 1994 und 1999 amtierte Ouattara beim IWF sogar als Vizedirektor. Mit seiner Biographie empfiehlt sich Ouattara quasi als Kandidat, von dem sich westliche Unternehmen mit Recht die Durchsetzung der Verwertungsinteressen des internationalen Monopolkapitals erhoffen.

Dabei wurden unter Gbagbo auch schon politische Vorkehrungen getroffen, die dem Westen entgegen kamen. So schloss Ende 2008 Côte d’Ivoire als erstes Land Afrikas ein Interimsabkommen mit der EU, das den inländischen Markt für auswärtige Importe öffnete und vier Fünftel der Einfuhren aus der EU begünstigte. Der im Land benutzte westafrikanische CFA-Franc ist dabei mit festem Wechselkurs an den Euro gebunden. Das Land investierte in bedeutende Infrastrukturprojekte wie geplante Neubau- und Sanierungsmaßnahmen in Häfen und Flughäfen, bei Straßen und Kommunikationsnetzen, bei denen die EU große Gewinne tätigen konnte.

Seit 2005 wird in Cote d’Ivoire auch Erdöl gefördert. So haben im Oktober 2010 die französische Total und Yam’s Petroleum LLC einen Vertrag über die Ausbeutung eines Ölfeldes geschlossen, in dem bis zu 1,5 Milliarden Barrel Öl vermutet werden. Das ist auch der Hauptgrund dafür, dass die EU und USA darauf achten, den pro-westlichen Politiker Ouattara in Abidjan an die Regierung zu bringen. Gbagbo gilt ihnen als zu unsicher, zumal er vor kurzem sogar den Rückzug der UNO-Truppen aus dem Land (die viele Menschen dort schon lange als verlängerten Arm der USA betrachten!) gefordert hatte.

Ouattara, der seine Bereitschaft, die Interessen der Industriestaaten zu bedienen, während seiner Tätigkeit beim IWF ausführlich unter Beweis gestellt hatte, ist deshalb der dem Westen genehmere Präsident. Insbesondere verfügt er über beste Beziehungen zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, die nach wie vor mit 40 Prozent den größten Anteil des ausländischen Kapitals in Côte d’Ivoire stellt.

Trotz aller Unklarheiten über den wirklichen Wahlausgang in Côte d’Ivoire hat die deutsche Regierung ebensowenig wie die EU und die UNO gezögert, Ouattara als Wahlsieger anzuerkennen.

Da Deutschland jedoch seinen Einfluss in diesem Lande ausdehnen will, unterstützt es zwar die Sanktionen der EU gegen Gbagbo, die das Einfrieren seiner europäischen Konten und ein Einreiseverbot gegen ihn und seine wichtigsten Mitarbeiter vorsieht, aber es plädiert mittlerweile für eine “landesinterne Lösung”, bei der “das Militär eine Schlüsselstellung” einnehmen solle. „Fremde Truppen wie die UN-Blauhelme” müssten dabei “ihre Unparteilichkeit bewahren”, weil sie andernfalls als “Besatzungstruppen angesehen” würden.

Der Leiter der Außenstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung, Jens Hettmann in Côte d’Ivoire, erklärte mittlerweile die vorbehaltlose Anerkennung Ouattaras durch die UNO für “schwer nachvollziehbar”.

Tatsächlich war es Berlin während Gbagbos Amtszeit gelungen, seinen bislang eher schwachen Einfluss in Côte d’Ivoire auszuweiten. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (vormals GTZ) beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit einem Projekt zur Förderung der Privatwirtschaft in Côte d’Ivoire, das deutschen Unternehmen den Zugriff auf die dortige landwirtschaftliche Produktion erleichtern soll. Darüber hinaus betreibt sie im Auftrag des Auswärtigen Amts ein Projekt zur Stärkung der Funktionsfähigkeit der Polizei. Ein Machtwechsel hin zu einem allzu eng an Paris angebundenen Präsidenten, ohne ein Gegengewicht wie etwa durch das Militär, würde den Bemühungen Berlins um die Ausweitung seines politischen und ökonomischen Einflusses zuwider laufen.

Ouattara selbst und seine Parteigenossen, allesamt westorientierte Politiker, hatten bei den Wahlen in den von ihnen dominierten Teilen des Landes keine Wahlbeobachter zugelassen.

Die Menschen in Cote d’Ivoire fühlen sich deshalb um ihren Wahlsieg betrogen, und weil sie keine dem Westen hörige Politiker an der Spitze ihres Landes dulden wollen.

Es kam im Lande deshalb zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die bis in die Gegenwart andauern, bei denen in den auf die Wahlen folgenden gewaltsamen Kämpfen über 200 Menschen ums Leben gekommen sein sollen. Zehntausende sind auf der Flucht. Viele befürchten deshalb einen erneuten Bürgerkrieg wie im Jahre 2007!

Die westlichen Industriestaaten bestehen ihrerseits auf einem Rückzug Gbagbos.

Gerade am Beispiel von Cote d’Ivoire zeigt sich, wie wenig Demokratie der Westen in den Entwicklungsländern zulässt. Nämlich gar keine, wenn es ihren Interessen widerspricht!

So haben die westlichen Staaten Sanktionen gegen Gbagbo angeordnet, obwohl der Wahlsieg Alassane Ouattaras aus den oben genannten Gründen mehr als zweifelhaft ist.

Seit dem Ende des Bürgerkrieges im Jahre 2007 ist das Land in zwei unterschiedliche Machtsphären aufgeteilt. Den Norden des Landes kontrollieren die ehemaligen Rebellen der Forces Nouvelles (FN) unter Guillaume Soro, der zuletzt als Premierminister einer Einheitsregierung unter Gbagbo amtierte. Die FN unterstützen aber mittlerweile Ouattara, der im Norden der Côte d’Ivoire geboren wurde.

Der wirtschaftlich stärkere Süden wird dagegen von Gbagbo kontrolliiert.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es in Cote d’Ivoire sehr wohl darum geht, ob das Land in neokolonialistischer Manier noch enger an den Westen angegliedert wird (also dem internationalen Monopolkapital Tür und Tor geöffnet wird!), aber auch darum, wer von den Westmächten in diesem Gebiet die Führungsrolle übernehmen wird.

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9. kulturpolitische Diskussionsrunde

Quelle: http://www.kulturoffensive.ch/2011/9-kulturpolitische-diskussionsrunde/

9. kulturpolitische Diskussionsrunde
Treibhaus
6. April 2011 19:00

Liebe ALLE.

Nicht nur der Frühling meldet sich mal wieder zurück, auch hier geht wieder was! Was denn genau?!
Das seht ihr im (unglaublich ausführlichen) Protokoll der letzten KulturOFFENSIVE Sitzung. Wenn ihr dieses ganz genau durch lest, solltet ihr alle wieder auf dem neuesten Stand sein. Und wenn ihr kein E-Mail bekommen habt, meldet Euch beim Newsletter an.

Wichtig: Einige AGs/Gruppen erwachen aus ihrem Winterschlaf und es gibt das eine oder andere Sitzungsdatum.
Also, jetzt wo die Tage langsam aber sicher wieder länger werden:
Kommt, macht mit, bringt euch ein!

Bis in Bälde…

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Adlerhof in Luzern besetzt

Via: facebook

„In der Haldenstrasse 39 in Luzern haben wir einen verlassenen Horst gefunden, welchen wir wiederbeleben. Es soll ein Nest werden, in dem sich nicht bloss weitsichtige Adler, sondern auch singende Nachtigalle, schwarze Raben, freche Spatzen und andere schräge Vögel ausleben können. Ein Ort, an welchem buntes kulturelles Treiben selbstbestimmt stattfinden kann. Aber auch ein Nest um wieder Neues auszubrüten.“

 Programm siehe Flyer

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Generation Revolution: von Bengasi bis Lampedusa

Quelle: http://de.indymedia.org

Der als Journalist, Blogger und Autor arbeitende italienische Menschenrechtsaktivist Daniele del Grande hält sich seit 14. Tagen in Bengasi auf, um von Dort über die libysche Revolution und den Krieg zu berichten.

Er ist durch sein blog Fortresseurope und einigen Publikationen zum Thema Migration und Grenzen, die sie unterdücken, auch international bekannt. Die ihrerseits unter anderem für das Infoportal Rebelion aus Tunesien berichtende spanisch-tunesische Linksaktivistin Alma Allende führte ein Interview mit ihm zu verschiedenen unbequemen Fragen bezüglich der Lage am südlichen Rand des Mittelmeers, auf der Insel Lampedusa und auch bezüglich manchen Problems in westlichen Köpfen.

Der folgenden Übersetzung liegt die von Del Grande selbst auf Fortresseurope veröffentlichte Fassung zugrunde: http://fortresseurope.blogspot.com/2011/03/generazione-revolution-da-Bengasi.html#more

Generation Revolution: von Bengasi bis Lampedusa

Um eine klarere Sicht zu bekommen, hilft manchmal eine Unterhaltung. Besonders wenn die Gesprächspartnerin jemand wie Alma Allende ist, die für die Website Rebelion die gesamte Revolution in Tunesien verfolgt hat. Die Fragen sind von ihr, die Antworten von mir, der ich seit zwei Wochen zusammen mit den Kids der Revolte hier in Bengasi bin. Wohin steuert Libyen? Warum poltern alle, es gebe einen amerikanischen oder imperialistischen Komplott? Welche ist die Rolle der Information gewesen? Kann man an einem Ort vie diesen unparteilich sein? Schließlich, noch Lampedusa. Hat Libyen wirklich etwas mit den Landungen der letzen Wochen zu tun? Lies’ das Interview…

Gabriele, es gibt jetzt, wo die UNO-Intervention beschlossen wurde und über Libyen die Bomben der Alliierten herabregnen antiimperialistische Stimmen, die versuchen, den Nachweis zu erbringen, dass die Revolte von Anfang an von den westlichen Mächten vorbereitet worden war. Was hältst Du davon? Gab es einen externen Plan oder hat es sich um spontane Revolten von Unten gehandelt, wie in Tunesien und Ägypten?

Ich bin mit denen, die rufen, es habe eine Verschwörung gegeben überhaupt nicht einverstanden. Wie in Tunesien, Ägypten, Jemen und jetzt auch in Syrien sind die Revolten in Libyen nicht die Frucht amerikanischer Verschwörungen, sondern vielmehr die natürlichste Antwort gewesen, die wir nach jahrzehntelangen, im Namen der Stabilität und guter Geschäfte von den Großmächten unterstützten Diktaturen hätten erwarten können. Sie sind spontan gewesen und von unten ausgegangen. Es wundert, dass gewisse Verschwörungstheorien aus linken Kreisen kommen. Das ist ein im Sinne einer Analyse interessantes Paradoxon. Es sind vor Allem die Armen, die in Kairo wie in Tunis und Bengasi auf der Straße sind. Die Armen aber fordern keine Löhne, sie wettern nicht gegen die Bonzen, sie identifizieren sich nicht mit der Arbeiterklasse – zumindest noch nicht. Vor allen Dingen fordern sie Freiheit, und sie identifizieren sich vordergründig als Bürger. Eins der wichtigsten Instrumente, der es ihnen erlaubt, sich zu organisieren, ist ein Konsumgegenstand, der vielleicht symbolhaft für die belanglosesten unter den Gütern des Konsumismus steht: der Computer, mit dem man ins Netzt gehen kann, und die Videohandys, mit denen sich das, was auf der Straße passiert festhalten lässt. Schließlich gibt es noch ein generationsspezifisches Element. Es handelt sich im Gegensatz zu Italien, wo der Bürger im Durchschnitt im kalten Krieg heranwuchs, um junge Länder. der Großteil der Bevölkerung ist hier weniger als 25 Jahre alt, und er drängt auf Wandel. Ein Wandel, den wir es am nördlichen Ufer nicht vermögen, zu begreifen – auch wegen einer rassistischen und kolonialen Herangehensweise, von der wir es nicht schaffen, uns zu befreien. Europa hält sich für die einzige Wahrerin der Demokratie, als es sich dabei um einen Begriff handle, der einigen, aber nicht anderen eigen sei. Und sie hält es für nicht möglich, dass ein muslimisches Land nach Freiheit statt nach religiösem Obskurantismus streben könne. Das ist der Grund, weshalb die Verschwörungstheorien greifen. Wir vermögen es nicht zu akzeptieren, dass “unserer” Dekadenz “ihr” Wiederaufleben entspricht.

Warum glaubst Du, dass die USA, die EU und auch Italien sich für eine “humanitäre” Intervention gegen einen Freund und Verbündeten entschieden haben?

Aufgrund eines kapitalen Berechnungsfehlers, glaube ich. Ich erläutere das: Anfänglich schien es so, als würde das Gaddafi-Regime innerhalb weniger Tage in sich selbst zusammenfallen würde. In Tunesien und Ägypten war es so gegangen. Und es gab in jenen Tagen einen Wettlauf der Weltmächte, um die libysche Diktatur zu verurteilen und um Signale der Öffnung an die Aufständischen zu senden, um sich die Kontinuität der Ölverträge und der milliardenschweren Aufträge, die Libyen bietet und in den nächsten Jahren bieten wird zu sichern. Dann hat sich zugetragen, dass Gaddafi sich als einen härteren Brocken erwiesen hat, als vermutet und dass er dank dem auf Zeit spielen der UNO und dem Antreten in Libyen von Söldnern aus anderen afrikanischen Staaten, die Professionelle des Krieges sind und in einer Kriegskampagne in den Städten der Aufständischen eingesetzt werden, an Boden zurückgewinnen konnte. An der Stelle haben die internationalen Großmächte eine Entscheidung treffen müssen, um ihre Interessen in Libyen zu verteidigen: entweder auf die Aufständischen setzen, oder umkehren – was die sehr hohe Gefahr beinhaltete, dass eine Gestalt wie Gaddafi vor dem Hintergrund seines eigenwilligen und wankelmütigen handlings des Systems Libyen aus Ressentiment für den Affront die Verträge mit den Gesellschaften jener Staaten aufheben könne.

Wer gehört dem libyschen Nationalrat an? Sind es Agenten des Imperialismus, gute Revolutionäre oder eine Mischung aus Allem?

Es sind Gestalten unterschiedlichsten Hintergrunds – vor Allem Anwälte, Richter, Geschäftsleute und das eine oder andere saubere Gesicht des Regime, das Gaddafi rechtzeitig zurück gelassen und kein Blut an den Händen kleben hat. Einige sind nach Jahren des Exils im Ausland nach Libyen zurück gekehrt, besonders aus den USA. Aus ihren Erklärungen geht deutlich hervor, dass sie ein geeintes, auf ein verfassungsrechtliches, parlamentarisches und von Parteien getragenes System gestütztes Libyen anstreben, das, mit Hauptstadt Tripolis, die alten Ölverträge einhält und dass die Freiheit der Meinungsäußerung, der Bildung von Vereinigungen und Unternehmen sowie der Gesinnung anerkannt wird. Die Arbeit, die vor ihnen liegt, ist unendlich lang, weil die Zivilgesellschaft in Libyen seit 42 Jahren auf Null gesetzt wurde. Es gibt keine Vereinigungen. Es gibt keine Gewerkschaften. Es gibt keine politischen Parteien. Es gibt keine Institutionen. Es gibt nur das Netzwerk der Volkskomitees Gaddafis, seine Spezialkräfte, eine Armee, die nichts zählt und die lange Hand des großen Häuptlings, der je nach Laune über alles entscheidet.

Gibt es in Bengasi eine mehr oder weniger organisierte Linke? Welche Rolle haben die jugendlichen gespielt?

Die Linke gibt es nicht und wenn sie es gibt, sieht man sie nicht. Noch mal: es gibt und es hat in den letzten 40 Jahren keine politischen Parteien gegeben. Jede Form des Dissenses ist repressiv unterdrückt worden. Die einzige Form der internen Opposition der letzten Jahrzehnte ist die des politischen Islam gewesen. Der härtester Repression ausgesetzt wurde. Es genügt, an die 1200 Islamisten zu denken, die 1996 im Abu Salim Gefängnis in Tripolis in einer Nacht Füsiliert wurden. Und auch die Revolution vom 17. Februar ist durch den Funken eines ihrer Proteste explodiert, als die Angehörigen der Opfer am 15. Februar auf die Straße gingen, um Gerechtigkeit zu fordern. Sonst ist es eine spontane Bewegung, die vor Allem aus jungen Menschen besteht, die, wenn ihr so wollt, auch naiv sein mögen, aber im positiven Sinne. Das heißt, es gibt eine Generation, die ohne Sophismen beschlossen hat, dass es sich lohnt, um die Freiheit zu kämpfen, und dem Gaddafi-Regime ein Ende zu setzen – auch um den Preis es Lebens.

Wie war die soziale und wirtschaftliche Lage in der Zyrenaika vor den Revolten? Ist Libyen nicht ein reiches Land? Warum also der Protest?

Das ist wieder etwas sehr interessantes. Im Unterschied zu Tunesien und Ägypten ist Libyen ein reiches Land. Auch in diesen Tagen sieht man brandneue Geländewagen durch die Gegend fahren und die Häuser, in denen ich war, sind Häuser der Mittelklasse. Die Armen in der Stadt sind vor Allem die Ausländer. Ägypter, Sudanesen, Chader, Tunesier, Marokkaner, Nigerianer, die auf der Suche nach Glück nach Libyen eingewandert sind und bei der Verrichtung der niedersten und am geringsten entlohnten Arbeiten geendet sind. Anders verhält es sich auf dem Land und in der bäuerlichen Welt, die entschieden unterhalb des Lebensstandards in den Städten lebt. Hier wird aber nicht wegen der Löhne protestiert – ich betone es noch mal. Ich habe nie gehört, wie das Wort “Lohn” ausgesprochen wurde. Natürlich wird der Skandal der Korruption angeprangert, der springende Punkt ist aber die Freiheit und das Ende der Diktatur und des Staatsterrorismus. Darüber hinaus ist es klar, dass alle glauben, dass eine des Allgemeinwohls bedachte Verwaltung des Öls dem ganzen Land großen Reichtum, mehr Bildung und Lebensqualität einbringen wird. Der Springende Punkt ist aber ein weiteres Mal die Freiheit.

Haben die Bewohner Bengasis tatsächlich um die Intervention gebeten? Haben sie keine Angst, dass sie die Kontrolle über ihre Revolution verlieren könnten? Angst, auf internationaler Ebene an Glaubwürdigkeit zu verlieren?

Die Bewohner Bengasis haben zu zwei Dingen klare Vorstellungen. Sie wollen die Flugverbotszone und die Bombardements der Alliierten gegen die Luftwaffe Gaddafis und gegen sein schweres Gerät, das die Zivilbevölkerung bedrohen. Gleichzeitig wollen sie weder einen Einmarsch ausländischer Truppen noch eine militärische Besatzung. Das sagt die Straße und der nationale Übergangsrat bekräftigt es.

Die Antiimperialisten, die von Verschwörung sprechen, fragen sich, wieso die Demonstranten sich nach den ersten Tagen sofort bewaffnet haben. Woher haben sie diese Waffen genommen? Wer hat die Rebellen versorgt?

Es ist seltsam, dass sie sich stattdessen nicht fragen, wer Gaddafi bewaffnet hat und woher er all die Panzer und Raketenwerfer genommen hat, mit denen er die Zivilbevölkerung terrorisiert. Um aber zur Frage zu kommen: es handelt sich um eine sehr simple Dynamik. Am 15. Februar beginnt der Protest in Bengasi. Wie in Tunis und in Kairo, weigert sich die Armee, auf das Volk zu schießen. An seiner statt tun es aber die Spezialsicherheitskräfte Gaddafis. Binnen weniger Tage ist es ein Massaker, es gibt mindestens 300 Tote. Unter dem druck des Volkes öffnet die Armee daraufhin die Kasernen. Es lässt zu, dass sich die jungen Leute die alten Kalaschnikovs und die wenigen Raketenwerfer holen, die in den Depots liegen. Dank diesen Waffen gelingt es ihnen, Gaddafis Spezialkräfte aus der Stadt zu verjagen und weiterhin mit diesen Waffen verteidigen sie die Stadt Bengasi, befreien sie die Nachbarstädte Ljadabiya, Brega und Ras Lanuf. Bis Gaddafi Sondereinheiten und mit Panzern und Raketen bewaffnete und von der Militärluftwaffe unterstütze Söldner gegen sie losschickt, die mit Bombardements an der Front in den Reihen der Aufständischen Panik auslösen. Es ist dann wahr, dass in den Tagen, die auf den ersten militärischen Niederlagen gegen die Armada Gaddafis folgten, neue Waffen und Munition in der Stadt ankamen. Es waren erneut alte Kalashnikovs und ein bisschen Flugabwehrartillerie. Jemand hat drei Hubschrauber und zwei Mirage Flugzeuge wieder in Gang gesetzt, die später beide abgeschossen wurden, eins durch friendly-fire und eins wegen einer Explosion des Motors. Wenn es wie auch immer ein Rätsel ist, woher die neuen Waffen gekommen sind, so ist dagegen sicher, dass es sich um leichte Waffen von extrem schlechter Qualität handelt. Bezüglich der mutmaßlichen militärischen Aussbilder, über die so viel spekuliert wurde ist zu sagen, dass sie nie ankamen, wenn man dem Chaos an der Front nach urteilt.

Wie glaubst Du könnte die westliche Intervention den Verlauf der libyschen und arabischen Revolution beeinflussen?

Das hängt ganz davon ab, welche Entscheidungen fallen werden. Vorerst hat das Bombardement der schweren Artillerie Gaddafis einfach einen Massaker abgewendet. Mit Sicherheit wurden hunderte libysche Soldaten und Söldner getötet. Mit Sicherheit konnte man das durch eine vorherige Intervention auf Diplomatieebene verhindern, vielleicht zehn Jahre früher, statt den Diktator seit dem Ende des Embargos 2004 zu hofieren. So wie die Dinge stehen hat jenes Bombardement aber die Enterung Bengasis durch dreißig Panzer und zwanzig Raketenwerfern verhindert, als diese bereits vor den Toren standen und nach dem ein einziger Gefechtstag in Stadt 94 Tote gekostet hatte! Ob der Krieg gefällt oder nicht – und mir gefällt er nicht – das ist es, wovon wir reden. Jetzt aber ist es notwendig, dass die Intervention aufhört, und dass der Rest von der Arbeit von den Libyern erledigt wird. Weil das Problem nicht Krieg ja oder nein ist. Der Krieg ist schon da. Und es ist ein Befreiungskrieg. Der Krieg eines Volkes gegen ein Regime, seinen Marionetten und seinen Söldnern. Und es darf kein Kolonialkrieg gegen eine den eigenen besonderen Interessen feindliche Regierung werden. Anhand dessen, was ich in diesen Tagen gesehen habe, fühle ich mich motiviert, das lybische Volk umfassend zu unterstützen. Im besten Falle wird eine auf ein neoliberales Wirtschaftssystem gestützte verfassungsrechtliche Republik dabei heraus kommen. Das mag uns nicht zusagen, es ist aber das, was den Libyern zusagt und die werden doch wohl das Recht haben, über ihre Zukunft zu entscheiden! Gaddafi im Namen seiner sozialistischen und thirdworldistischen Maske zu unterstützen ist nicht nur dumm, sondern etwas für Komplizen eines Kriegsverbrechers.

“Gaddafi darf kein Haar gekrümmt werden, die Bilder seines bombardierten Hauses tun mir weh”, sagt Berlusconi. Er sagt auch, dass er die Absicht hat, höchstpersönlich einen Besuch in Tripolis abzustatten, um mit dem Rais “einen ehrbaren Gang von der Bühne” zu verhandeln. Aus welchem Grund?

Berlusconi spricht ein Stück weit wegen seinem Allmachtswahn so und zum Teil wegen seinem ständigen Suchen nach einem Platz unter den großen Staatsmännern der italienischen Geschichte. Und ein bisschen auch um die italienische und internationale Öffentlichkeit von seinem Hurenbock-Image abzulenken, das seit den letzten, von der italienischen Richterschaft und Presse so morbide untersuchten Sexskandalen an ihm haftet.

Reden wir über Lampedusa. Elftausend gelandete Migranten, von denen sich heute noch dreitausend auf der Insel befinden, nachdem zweitausend verlegt wurden. Es fehlen fünf- bis achttausend, die das Innenministerium behauptet, im ganzen Land “verteilt” zu haben, als sei die Zahl der in den Abschiebezentren und in den Aufnahmezentren für Asylbewerber nicht öffentlich bekannt. Gibt es einen Zusammenhang mit Libyen, auch wenn es nicht so scheint, als unter den Migranten Libyer wären?

Nein, vorerst gibt es keinen Zusammenhang. Es wird ihn bald geben, sobald sie wieder aus Zuwara ablegen werden, vermutlich nach dem Ende der Revolution. Momentan sehe ich aber keinen. Auf der Insel kommt momentan keiner an, der auf der Flucht aus Libyen wäre. Gewiss, von hier sind 250000 Ausländer weggegangen, besonders Ägypter und Tunesien, und dann Chinesen und Bangladeshis und andere. Sie sind inzwischen aber zum großen Teil heimgekehrt, um später wieder in Libyen zu arbeiten, während sich die libyschen Flüchtlinge für den Moment von einer Stadt des Landes in die nächste bewegen und in den befreiten Zonen im Osten Zuflucht suchen. In Lampedusa sind hingegen ausschließlich Tunesier angekommen, die zudem aus Zarzis, Djerba und Tatouine stammen. Auch hier liegt nicht das im Lande durch die Revolution entstandene Chaos an der Wurzel des rasanten Anstiegs der Abfahrten, wie viele behauptet haben, die nach politischem Asyl rufen und von Flüchtlingen reden. Es liegen stattdessen zwei Faktoren vor. Ein eher zufälliger, der mit der tunesischen Wirtschaftskrise zusammenhängt, die auf den Zusammenbruch des Tourismus nach den Nachrichten über die Revolution gefolgt ist. Der zweite hängt mit dem kollektiven Abenteuer. Noch mal: allein nach einem Krisenschema zu räsonieren ist oberflächlich und rassistisch, weil wir so dazu gebracht werden zu vergessen, dass von jungen Leuten die Rede ist, die uns mit ihren Träumen und ihrem Sinn für Herausforderungen gleich sind. Tausende junge Leute haben gelernt, dass es richtig ist, zu rebellieren. Ohne es vielleicht rational erfasst zu haben, haben sie begonnen, gegen die Ungerechtigkeit der Grenze aufzubegehren. Sie wollen zu ihren Verwandten nach Paris, sie wollen ein paar Monate arbeiten, sie wollen das nördliche Ufer sehen, sie wollen sich mit einer Italienerin verloben. Sie wollen reisen. Der Grund, das ist ihre Sache, das Reisen ist schließlich nichts, das ausschließlich Verzweifelte betreiben, es ist, ganz im Gegenteil, ein nicht weg zu denkender Teil des Lebens aller jungen Leute von Heute. Deswegen sage ich, dass es im Endeffekt nicht schlecht ist, dass Lampedusa überfüllt ist. Weil das auf explosive Weise ernste Fragen aufwirft. Das Regime der Kriminalisierung der Bewegungsfreiheit muss fallen, genau so, wie die Diktaturen am Mittelmeer gefallen sind. Die Zeiten sind inzwischen reif.

Hast Du nicht das Gefühl gehabt, parteiisch zu sein, in dem Du aus Bengasi schreibst? Wie beurteilst Du die Qualität der Information zu Libyen im Allgemeinen und zu Bengasi im Besonderen? Haben sie uns manipuliert? Wer? Die linke – eine bestimmte Linke – sagt zum Beispiel, dass Gaddafi die Demonstranten nie bombardiert hat und dass dies der Beweis dafür ist, dass alles gelogen ist. Aber auch einige linke Journalisten – wie Mateuzzi von Il Manifesto oder Telesur – haben eine partielle oder geradezu falsche Information betrieben.

Klar bin ich parteiisch. Ich bin mir dessen bewusst und stolz darüber. Jede Erzählung hat einen Standpunkt, und es wichtig, den eigenen zu wählen. So, wie ich von Grenze schreibe und dabei den Standpunkt der Zurückgewiesenen und der Familien derer, die in der See gestorben sind übernehme, statt den der europäischen Bourgeoisie oder der Grenzpolizei, so habe ich aus der Mitte der Aufständischen und nicht aus der Mitte der Schergen der Diktatoren von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten erzählt. In Libyen ist es genau so. Ich will nicht der Sprecher eines Kriegsverbrechers wie Gaddafi sein. Ich wäre hingegen gerne in Tripolis, das schon, um vom Dissens in der Hauptstadt zu erzählen, der aus den Nachrichten verschwand, nach dem die ersten, schüchternen Demonstrationen im Blut ertränkt alle eingebetteten Journalisten in die Hotels gesperrt und gezwungen wurden, lediglich die vom Regime selektierten Nachrichten zu covern. Folglich bin ich parteiisch, und ich ziehe es vor, auf der Seite derer zu sein, die für die Freiheit kämpfen, statt auf der Seite desjenigen, der Söldnertruppen oder Raketenwerfer einsetzen, um das eigene Volk anzugreifen, weil er nach 42 Jahren Diktatur die Macht nicht loslassen will. Dann kriegt die Linke eine Krise, weil Gaddafi ein Symbol für Sozialismus und thirdworldismus gewesen ist. Noch heute hat er viele Freunde. Unter denen Chavez ist, und damit Telesur, und Valentino Parlato und damit Il Manifesto. Für das, was die Libyenfrage betrifft, würde ich diese beiden Medien also nicht als gute Journalismusbeispiele benennen. So wie ich auch nicht den TV-Sender Al Arabiya benennen würde, der die falsche Zahl von 10000 Toten in Umlauf brachte, und alle anderen Medien, die ohne Beweise die Nachricht der Bombardements auf die Demonstrantenmengen und auf die Massengräber verbreitet haben und dabei sogar so weit gegangen sind, auf unangebrachte Weise das Wort Genozid zu verwenden. Hierbei kommt zum x-ten Mal die mangelnde Qualität des heutigen Journalismus zu Tage, besonders des Italienischen. Vor Allem, wenn es darum geht, Phänomen darzustellen, die von den gewohnten Denkmustern abweichen. Sozialismus und Diktatur, Krieg und Frieden, Islam und Demokratie. Gerade deswegen scheint es mir wichtig, hier zu sein, und von den Geschichten der wahren Protagonisten dieser Revolution ausgehend zu schreiben – den Kids der neuen libyschen Generation.
Link zur spanischen Version des Interviews: http://www.rebelion.org/noticia.php?id=125004

http://fortresseurope.blogspot.com/2011/03/generazione-revolution-da-Bengasi.html#more

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Freiheit für Simos Seisidis! – Solidaritätsaufruf

via: http://anarchistische-aktion-zentralschweiz.over-blog.de/

Der Anarchist Symeon “Simos” Seisidis wurde am 3. Mai 2010 in Griechenland festgenommen, nachdem er von Bullen angeschossen wurde. Durch die Verletzungen musste eines seiner Beine im Knastkrankenhaus amputiert werden. Durch die Solidarität von GenossInnen konnten die Kosten für ein künstliches Bein gedeckt werden.

Gesucht wurde er seit Anfang 2006, am 16. Januar 2006 wurde ein Haftbefehl auf ihn ausgestellt. Er wird der Beteiligung am einem Banküberfall zusammen mit Giannis Dimitrakis und zwei weiteren beschuldigt. Auf Simos, sein Bruder Marios und den Freund Grigoris Tsironis wurden eine Belohnung von 600.000 Euro festgesetzt für deren Ergreifung. Sie sollen die von Bullen und Medien herbeigeredeten “Räuber in schwarz” [“robbers in black” – “oi listes me ta maura”] sein, die für eine Vielzahl von Banküberfällen verantwortlich sein sollen.

Internationaler Solidaritätsaufruf

Am 30.03.2011 wird der Prozess zum Fall der “Räuber in Schwarz” in der ersten Instanz stattfinden. Es wird sich um den Banküberfall der National Bank auf der Solonos Straße im Athener Stadtzentrum im Januar 2006 handeln, sowie sechs weitere Banküberfälle. Es ist der gleiche Fall in dem Giannis Dimitrakis schließlich in zweiter Instanz zu 12,5 Jahren Knast verurteilt wurde. Dieses Mal ist Simos Seisidis, der für 4,5 Jahre auf der Flucht war, der Beschuldigte.

Simos wurde am 03.05.2010 festgenommen, nachdem er zufällig auf eine Polizeistreife traf. Da er auf der Flucht war, blieb Simos nicht stehen um kontrolliert zu werden. Bei der anschließenden Verfolgungsjagd wurde er von hinten angeschossen, woraus resultierte, dass er in Lebensgefahr schwebte und letztendlich, aufgrund der schweren Verletzung, sein rechtes Bein amputiert wurde. Auch aus diesem Vorfall wurde eine Anklage gemacht, Simos wird wegen versuchtem Totschlag an dem Bullen angeklagt, welcher sich zuvor hinter einem Auto versteckt hatte und ihn von dort aus anschoss. Auch für diesen Vorfall befindet er sich in Untersuchungshaft. Da der Staatsanwalt es zu einer schnellen Verurteilung bringen wollte, wurde nicht einmal auf das Gutachten des Gerichtsmediziners über die amputierte Gliedmaßen gewartet. Das Gutachten wurde nun endlich mit NEUN MONATEN VERSPÄTUNG ERBRACHT UND BESTÄTIGT UNSERE ANGABEN VOLLSTÄNDIG.

Simos war auf der Flucht seit ein Haftbefehl gegen ihn ausgesetzt wurde, welcher dem Banküberfall folgte, bei dem Giannis Dimitrakis festgenommen wurde. (Der Haftbefehl wurde ebenso gegen seinen Bruder Marios Seisidis und den Comrade Marios Tsironis ausgesetzt, welche beide noch gesucht werden.) Ohne wesentliche Beweise gegen sie und infolge der Kriminalisierung ihrer persönlichen und „politischen“ Beziehungen, waren die drei Comrades dazu gezwungen zu fliehen, da sie keine Gerechtigkeit von Justiz, den Repressionsorganen und den terrorspeienden Marionetten der Nachrichten erwarteten und so war es auch. Keine der zuvor genannten Gewalten widersprach den Erwartungen: Die erstgenannte verurteilte ihn in Abwesenheit zu 7,5 Jahren Knast für Vergehen im Zusammenhang mit den sieben Banküberfällen, vor kurzem lehnte sie sein Berufungsrecht ab. Die zweitgenannte setzte ein Kopfgeld in der astronomischen Höhe von 600.000 Euro aus und versuchte schließlich ihn umzubringen. Und die letztgenannte mit ihren “Polizei-Informationen“ und ihren “Terror“-Artikeln in diesen Jahren, begradigte den Weg für die Kugel, die schließlich ihr Ziel fand…

Der Comrade wird ebenso wegen beschlagnahmter Waffen angeklagt, wobei die Anklage ausschließlich auf einem DNA-Beweis basiert. Diese DNA-Probe wurde in einer anderen Gegend gefunden, als dort wo der Vorfall passierte; aber das ist nur eine Nebensache, wenn du ein Anarchist bist und besonders ein gesuchter. Seit kurzem sind Verurteilungen auf Grund von DNA in Mode bei den griechischen Behörden, welche auf diese Art einen einfachen Weg gefunden haben Leute zu kriminalisieren und es wird in Kauf genommen, dass genetisches Material von uns allen und zu jeder Zeit überall gefunden und irgendwohin transportiert werden kann. Mit einer älteren, noch offenen Anklage für die er problemlos hätte freigesprochen werden können, wäre er nicht auf der Flucht gewesen (immerhin wurde er vor kurzem von einem weiteren Komplott freigesprochen), sieht Simos sich insgesamt in zwei Fällen zu Haftstrafen verurteilt und in Untersuchungshaft für weitere drei Anklagen. Das Wesentliche liegt trotz Allem nicht in der legal-juristischen Sichtweise. Wir halten jedoch eine kurze Beschreibung der Situation für notwendig, um den Comrades inner- und außerhalb Griechenlands ein möglichst klares Bild von der Intensität und Größe der Bemühungen des Staates, diesen Comrade im Speziellen zu vernichten, zu ermöglichen. Wir wollen, dass die Solidarität für ihn, wenn er am 30.03. vor Gericht steht, passend zu dieser Intensität und Größe ist!

In den letzten zwei Jahren schlägt in Griechenland das Imperium zurück. Aus Angst vor der sozialen Explosion, die aufgrund der Intensität der ökonomischen Krise ausbrechen könnte, versucht es den Faktor auszulöschen, welcher durch die Verbreitung von politischem Bewusstsein während dieser Explosion, diese in eine Revolution verändern könnte: das anarchistische/antiautoritäre Milieu.

Bei diesem Versuch hat die Demokratie die letzten glatten Fassaden des demokratischen Seins verloren. Protestierende werden mit unglaublicher Heftigkeit verprügelt, anarchistische Freiräume werden als konspirative Häuser betitelt, Menschen werden eingeknastet und angeklagt Teil einer unbenannten und unbekannten bewaffneten Gruppe zu sein, andere werden beschuldigt “Terroristen” zu sein, weil sie eine Straße entlang gegangen sind oder einen Kaffee getrunken haben. Aber unglücklicherweise für diejenigen, die an der Macht sind, springen dort, wo sie einen Fokus des Widerstands unterdrücken, zehn weitere hervor…

Sie versuchen soziale Kämpfe durch den Gebrauch von Angst und Repression in nicht ernstzunehmende und sinnlose Aktivitäten zu verwandeln. Es liegt an uns, ihnen diese Angst zurückzuspielen. Sie versuchen durch die beispielhafte Vernichtung von den Kämpfenden, die sich in ihren Fängen wiederfinden, den Rest davon abzuschrecken, Kampf und Widerstand zu wählen, und die eingesperrten Comrades zu Gespenstern zu machen, an die sich nur ein paar Freunde und Verwandte erinnern… es liegt an uns, unsere Comrades nicht zu vergessen. Es liegt an uns, sie zurückzuholen.

Wir werden Simos Seisidis Vernichtung nicht zulassen. Weder weil er “unschuldig” ist, noch weil er brutal von den Repressionsorganen “bestraft” wurde. SONDERN WEIL ER EIN KÄMPFER IST.

WIR FORDERN SEINE UMGEHENDE FREILASSUNG. Weder aufgrund von “demokratischer Sensibilität”, noch aus Humanismus. SONDERN WEIL ER EIN GENOSSE IST.

WIR RUFEN ALLE KÄMPFENDEN AUF, IHRE STIMMEN MIT UNSEREN ZU VEREINEN, AM TAG DES PROZESSES DEM 30.03.2011. Weder aus Mitleid, noch aus der Pflicht. Sondern weil wir Anarchisten sind.

UND SOLIDARITÄT IST UNSERE WAFFE

GenossInnen in Solidarität

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Was ist los in Nordafrika, im Nahen & Mittleren Osten?

Quelle: http://de.internationalism.org/IKSonline2011_wasistlosnordafrika0311

Die Notwendigkeit der gemeinsamen Klärung

Die gegenwärtigen Ereignisse im Mittleren Osten und Nordafrika sind von historischer Bedeutung, deren Folgen bis jetzt noch nicht klar abzusehen sind. Aber es ist wichtig, eine Diskussion darüber anzustoßen, die es den Revolutionären ermöglichen wird, einen kohärenten Rahmen der Analyse zu entfalten. Die folgenden Punkte stellen keineswegs diesen Rahmen dar, noch liefern sie eine detailierte Beschreibung der Ereignisse, sondern lediglich einige grundsätzliche Eckpunkte als Beitrag zur Debatte.

Eine Welle von Kämpfen … und ihre Unterschiede

1. Seit 1848 oder 1917-1919 haben wir solch eine breitgefächerte, gleichzeitige Welle von Revolten nicht mehr gesehen. Das Epizentrum der Bewegung lag in Nordafrika (Tunesien, Ägypten und Libyen, aber auch Algerien und Marokko), Proteste gegen die bestehenden Regime sind im Gaza-Streifen, Jordanien, Irak, Iran, Jemen, Bahrain und Saudi-Arabien ausgebrochen, während in einer Reihe anderer repressiver arabischer Staaten, insbesondere Syrien, eine erhöhte Alarmbereitschaft herrscht. Und das Echo dieser Proteste ist auch in anderen Teilen Afrikas zu vernehmen: Sudan, Tansania, Zimbabwe, Swaziland… Den Widerhall dieser Revolten spürt man auch bei den Demonstrationen gegen korrupte Regierungen und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Kroatien, bei den Spruchbändern und Slogans der Studentendemos in Großbritannien und dem Arbeiterkampf in Wisconsin, und sicher auch in vielen anderen Ländern. Das heißt nicht, dass all diese Bewegungen in der arabischen Welt identisch wären, weder auf der Ebene ihres Inhaltes, ihrer Forderungen, noch der Reaktion der herrschenden Klasse, aber es gibt sicher eine Reihe von Gemeinsamkeiten, weshalb man von dem Phänomen insgesamt sprechen kann.
Der historische Kontext

2. Der historische Rahmen, in dem sich diese Ereignisse abspielen, ist folgender:

* Eine tiefgreifende, ja die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus, welche die schwächeren arabischen Länder mit besonderer Wucht getroffen hat, und die jetzt schon Millionen Menschen in bittere Armut stürzt, wobei die Aussichten sich immer mehr verschlechtern. Die Jugend, die im Gegensatz zu vielen „überalterten“ Industriegesellschaften einen großen Bevölkerungsanteil ausmacht, ist besonders hart durch die Arbeitslosigkeit und die Perspektivlosigkeit der unzähligen gebildeten aber auch ungebildeten jungen Leute getroffen. Bei allen Protesten stand überall die Jugend an vorderster Front.

* Das unerträglich korrupte und repressive Wesen all dieser Regime in der Region. Während eine lange Zeit das brutale Vorgehen der Geheimpolizei oder der Armee die Bevölkerung atomisiert oder terrorisiert konnte, haben diese Waffen des Staates nun mit dazu beigetragen, dass der Wille in der Bevölkerung, zusammenzukommen und gemeinsam zu widerstehen, wächst. Das war besonders ersichtlich in Ägypten, als Mubarak seine Trupps von Schlägern und Zivilpolizisten auf die Menschen hetzte, die den Tahrir-Platz besetzten, um diese zu terrorisieren. Diese Provokationen verstärkten nur die Entschlossenheit der Menschen, sich zu verteidigen; statt der erhofften Einschüchterung strömten noch mehr Menschen herbei. Die empörende Korruption und die Gier der herrschenden Cliquen, die ungeheure Mengen an privatem Reichtum gescheffelt haben, während der Großteil der Menschen jeden Tag ums Überleben kämpft, hat die Flammen der Rebellion weiter angefacht, sobald die Leute die Angst verloren hatten. Auf dieser Ebene ist wiederum die Rolle der neuen Generation ausschlaggebend gewesen; in diesem Sinn haben auch die Jugendrebellion in Griechenland vor zwei Jahren, die Studentenkämpfe in Großbritannien und Italien, der Kampf gegen die Rentenreform in Frankreich ihren Einfluss in der “arabischen” Welt hinterlassen, insbesondere im Zeitalter von Facebook und Twitter, wo es der herrschenden Klasse viel schwerer fällt, ein dichtes Black-out über die Kämpfe gegen die bestehenden Verhältnisse zu verhängen.

* Dieser plötzliche Verlust der Angst, der so stark ins Auge stach, ist ein Ergebnis nicht nur der Änderungen auf örtlicher und regionaler Ebene, sondern einer gewandelten Stimmung der Unzufriedenheit und des offenen Klassenkampfes auf internationaler Ebene. In Anbetracht der Wirtschaftskrise zeigen die Ausgebeuteten und die Unterdrückten immer weniger Bereitschaft, die von ihnen verlangten Opfer zu bringen.

Zum Klassencharakter dieser Bewegungen…

3. Der Klassencharakter dieser Bewegungen ist nicht einheitlich und unterscheidet sich von Land zu Land und je nach Phase. Insgesamt jedoch kann man sie als Bewegungen der nichtausbeutenden Klassen, als Sozialrevolten gegen den Staat bezeichnen. Im Allgemeinen stand die Arbeiterklasse nicht an der Spitze dieser Rebellion, aber sie hat sicherlich eine wesentliche Rolle gespielt und Einfluss ausgeübt, was sich anhand der Organisationsmethoden der Bewegung und in einigen Fällen durch die spezifische Entwicklung der Arbeiterkämpfe wie die Streiks in Algerien und vor allem die große Streikwelle in Ägypten feststellen lässt, die ein Schlüsselfaktor bei der Entscheidung, Mubarak fallen zu lassen, waren (siehe dazu andere Artikel in unserer Presse). In den meisten Ländern ist die Arbeiterklasse nicht die einzige unterdrückte Klasse. Die Bauernschaft und andere Schichten, die aus noch älteren Produktionsformen stammen, haben noch ein großes Gewicht auf dem Lande, auch wenn sie sehr zersplittert und durch Jahrzehnte kapitalistischen Niedergangs ruiniert sind. Dagegen lebt die Arbeiterklasse in den Städten, in denen das Zentrum der Revolten lag, Seite an Seite mit einer zahlenmäßig stärkeren Mittelschicht, die proletarisiert wird, aber dabei immer noch ihre Besonderheiten aufrechthält, und einer Masse von Slumbewohnern, die teilweise aus Arbeitern, teilweise aus kleinen Händlern und einem Heer von ‚lumpenisierten’ Leuten bestehen. Selbst in Ägypten, wo es die am stärksten gebündelte und erfahrenste Arbeiterklasse gibt, haben Augenzeugen hervorgehoben, dass die Proteste am Tahrir-Platz “alle Klassen” mobilisiert haben, mit Ausnahme der höheren Chargen des herrschenden Regimes. In anderen Ländern war das Gewicht der nicht-proletarischen Schichten viel größer als während der Kämpfe in den meisten zentralen Ländern.

Die Notwendigkeit, das Klassenwesen der Bewegung besser zu erfassen

4. Bei dem Versuch, das Klassenwesen dieser Rebellionen zu begreifen, muss man deshalb zwei symmetrische Fehler vermeiden: auf der einen Seite all diese Massen mit dem Proletariat in einen Topf schmeißen (eine Position, die am deutlichsten von der GCI (Groupe Communiste Internationaliste) verkörpert wird) und auf der anderen Seite die Verwerfung all des Positiven in den Revolten, die nicht ausdrückliche Arbeiterrevolten sind. Wir müssen dabei auf die Vergangenheit zurückkommen wie die Ereignisse im Iran Ende der 1970er Jahre, als es eine Volkserhebung gab, bei der die Arbeiterklasse eine Zeitlang eine führende Rolle spielen konnte, obwohl dies am Ende nicht reichte, um zu verhindern, dass die Bewegung von den Islamisten einverleibt wurde. Auf einer größeren historischen Ebene ist das Problem der Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und allgemeinen gesellschaftlichen Revolten auch das Problem des Staats in der Übergangsperiode, der aus der Bewegung aller nicht-ausbeutenden Klassen hervorgeht, gegenüber dem die Arbeiterklasse aber ihre Selbständigkeit bewahren muss

Die Methoden des Kampfes der Arbeiterklasse – ein Bezugspunkt?

5. In der Russischen Revolution 1917 wurden die Sowjets durch die Arbeiter ins Leben gerufen, aber sie stellten auch für die anderen unterdrückten Schichten ein Modell für ihre Organisierung dar. Ohne das richtige Augenmaß zu verlieren – weil es noch ein weiter Weg ist bis zum Erreichen einer revolutionären Situation, in der die Arbeiterklasse eine klare politische Führung gegenüber den anderen Schichten übernehmen kann -, kann man sehen, dass die Methoden des Kampfes der Arbeiterklasse die sozialen Revolten in der arabischen Welt beeinflusst haben:

* durch Tendenzen hin zur Selbstorganisierung, die am deutlichsten durch die Nachbarschaftsschutzkomitees zum Ausdruck kamen, die als Reaktion auf die Taktik des ägyptischen Regimes Verbrecherbanden auf die Bevölkerung zu hetzen, gegründet wurden. Oder durch die „Delegiertenstruktur“ einiger der größten Versammlungen auf dem Tahrir-Platz, überhaupt in dem ganzen Prozess kollektiver Diskussion und Entscheidungsfindung,
* Durch die Besetzung von Raum und Plätzen, die normalerweise vom Staat kontrolliert werden, um einen zentralen Brennpunkt für Versammlungen und der Organisierung auf breiterer Ebene zu schaffen,
* ein kollektives Eintreten für die Notwendigkeit der entschlossenen Selbstverteidigung gegen Schlägertypen und Polizisten, die von dem Regime gegen sie gehetzt wurden, wobei man gleichzeitig aber Gewalt, Zerstörung und Plünderung als Selbstzweck vermeiden wollte,
* bewusste Anstrengungen, sektiererische und andere Spaltungen zu überwinden, die von dem Regime immer auf eine ganz zynische Weise manipuliert wurden: Spaltungen zwischen Christen und Muslimen, zwischen Schiiten und Sunniten, religiösen und weltlichen Gruppen, Männern und Frauen,
* zahlreiche Versuche der Verbrüderung mit den unteren Rängen der Rekruten.

Es ist kein Zufall, dass diese Tendenzen sich am stärksten in Ägypten entwickelten, wo die Arbeiterklasse über eine lange Tradition von Kämpfen verfügt und in einer entscheidenden Phase der Bewegung als eine eigenständige Kraft in Erscheinung trat und eine Reihe von Kämpfen entfaltete, welche wie die von 2006-7 als die „Keime“ des zukünftigen Massenstreiks angesehen werden können. Diese enthielten nämlich viele der wichtigsten Merkmale desselben: die spontane Ausdehnung von Streiks und Forderungen von einem Bereich auf den anderen, die unnachgiebige Verwerfung der staatlichen Gewerkschaften und bestimmte Tendenzen zur Selbstorganisierung, das Erheben von politischen und ökonomischen Forderungen. Daran erkennt man in Umrissen die Fähigkeit der Arbeiterklasse als die Tribüne, der Dreh- und Angelpunkt für all die Unterdrückten und Ausgebeuteten aufzutreten und die Perspektive einer neuen Gesellschaft anzubieten.

Das Gewicht der Illusionen und andere Gefahren…

6. All diese Erfahrungen sind wichtige Schritte bei der Entwicklung eines echten revolutionären Bewusstseins. Aber der Weg in dieser Richtung ist noch sehr lang, und dabei stehen noch viele Hindernisse im Weg: Illusionen und ideologische Schwächen.

* Illusionen – vor allem über die Demokratie – sind noch sehr stark in den Ländern, wo eine Mischung von militärischen Tyrannen und korrupten Monarchien regierte, wo die Geheimpolizei überall gegenwärtig ist und Verhaftungen, Folter und Tötung von Dissidenten an der Tagesordnung sind. Diese Illusionen bieten der demokratischen „Opposition“ eine Gelegenheit, sich als eine Regierungsalternative anzubiedern. El Baradei und die Muslim-Bruderschaft in Ägypten, die Übergangsregierung in Tunesien, der Nationalrat in Libyen… In Ägypten macht man sich vor allem große Illusionen über die Armee als eine Kraft, die „auf Seiten des Volkes“ stehe, obgleich jüngste Repressionsmaßnahmen seitens der Armee gegen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sicherlich eine Minderheit von Leuten zum Nachdenken zwingen werden.
* Ein wichtiger Aspekt des demokratischen Mythos in Ägypten ist die Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften, die von vielen der militantesten Arbeitern geteilt wird, die zu Recht die Auflösung der diskreditierten Gewerkschaften verlangt haben.
* Illusionen über Nationalismus und Patriotismus, die ersichtlich wurden durch die Tatsache, dass die Nationalfahne als ein Symbol der ‘Revolutionen’ in Ägypten und Tunesien geschwenkt wurde oder in Libyen der Einsatz der alten monarchistischen Fahne als ein Emblem all der Unterdrückten durch das Gaddafi-Regime. Oder die Beschimpfung Mubaraks als eines Agenten des Zionismus auf vielen Spruchbändern in Ägypten zeigt, dass die Israel-Palästina-Frage ein wichtiger Hebel zur Ablenkung vom Klassenkampf und der Mobilisierung für imperialistische Konflikte bleibt. Dennoch spürte man keinen starken Drang, die palästinensische Frage in den Vordergrund zu stellen, da die Herrschenden das Leiden der Palästinenser schon so lange ausgeschlachtet haben, um von dem Leiden abzulenken, das sie ihrer eigenen Bevölkerung aufgezwungen haben, und es gab sicherlich ein Fünkchen Internationalismus, als man Nationalfahnen anderer Länder schwenkte, um die Solidarität mit den Revolten in diesen Ländern zum Ausdruck zu bringen. Das Ausmaß der Revolten in der ‚arabischen’ Welt und darüber hinaus ist eine Verdeutlichung der materiellen Wirklichkeit des Internationalismus, aber die patriotische Ideologie ist sehr anpassungsfähig, und bei diesen Ereignissen sehen wir, wie geschickt sie sich ein Volks- und demokratisches Gewand überstreifen kann.
* Illusionen über Religion. Öffentliche Gebete und Moscheen werden zu Treffpunkten für die Organisierung der Rebellion. In Libyen hat man gesehen, dass islamistische Gruppen (die eher im Land entstanden sind, als dass sie mit Al Quaida verbunden wären, wie Gaddafi behauptet) eine wichtige Rolle seit Beginn der Revolte spielen. Zusammen mit der Rolle von Stammesloyalitäten spiegelt dies die relative Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen wider sowie die Rückständigkeit des Landes und dessen staatlicher Strukturen. Aber da die radikalen Islamisten mit der Bin-Laden-Variante sich als die Erlösung aus der Misere der Massen in den „muslimischen Ländern“ dargestellt haben, haben die Revolten in Tunesien und Ägypten, und sogar in Libyen und den Golfstaaten wie Jemen und Bahrain gezeigt, dass die Jihad-Gruppen mit deren Praxis kleiner terroristischer Zellen und deren vergiftender Ideologie von dem massiven Charakter der Bewegung und deren tiefgreifenden Streben nach Überwindung der sektiererischen Spaltungen ziemlich marginalisiert worden sind.

Zur Tragödie in Libyen…

7. Die gegenwärtige Lage in Nordafrika und im Nahen & Mittleren Osten ist noch im Fluss. Zum Zeitpunkt des Schreibens erwartet man Proteste in Riad, auch wenn das saudische Regime schon jegliche Demonstrationen verboten hat, weil sie den Gesetzen der Scharia widersprechen. In Ägypten und Tunesien, wo die ‚Revolution’ angeblich schon triumphiert hat, kommt es ständig zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und dem nun „demokratischen“ Staat, der von den mehr oder weniger gleichen Kräften verwaltet wird, die den Laden vor dem Abgang der „Diktatoren“ führten. Die Streikwelle in Ägypten, die viele ihrer Forderungen schnell durchsetzen konnte, scheint jetzt abgeebbt zu sein. Aber weder die Arbeiterkämpfe noch die breitere soziale Bewegung haben irgendeinen größeren Rückschlag erlitten. Es gibt Hinweise auf breit gefächerte Diskussionen und Nachdenken zumindest in Ägypten. Aber die Dinge haben in Libyen einen ganz anderen Verlauf genommen. Was anfangs als eine echte gesellschaftliche Revolte von unten anfing, mit unbewaffneten Zivilisten, die mutig Kasernen stürmten und den Sitz der sogenannten ‚Volkskomitees’ anzündeten, insbesondere im Osten des Landes, ist schnell zu einem sehr blutigen und richtigen ‚Bürgerkrieg’ zwischen bürgerlichen Fraktionen ausgeartet. Die imperialistischen Mächte schweben wie Geier über den Massakern. Aus marxistischer Sicht ist dies ein Beispiel der Umwandlung eines beginnenden Bürgerkrieges – im wahren Sinne einer direkten und gewaltsamen Konfrontation zwischen den Klassen – in einen imperialistischen Krieg. Das historische Beispiel Spaniens – das trotz wesentlicher Unterschiede beim globalen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und der Tatsache, dass die anfänglichen Erhebungen gegen Franco’s Staatsstreich unverkennbar proletarischen Charakters waren – belegt, dass die nationale und internationale Bourgeoisie in solchen Situationen sowohl ihre parteiinternen, als auch nationalen und internationalen Rivalitäten vorantreibt und die Möglichkeiten sozialer Revolte ausmerzt.

8. Der Hintergrund für diese Wende der Ereignisse in Libyen ist die extreme Rückständigkeit des libyschen Kapitalismus, der mehr als 40 Jahre lang von der Gaddafi-Clique hauptsächlich durch dessen Terrorapparat unter seiner direkten Führung beherrscht wurde. Diese Struktur hinderte die Armee daran als eine Kraft zu wirken, welche das nationale Interesse über das Partikularinteresse bestimmter Führer oder Fraktionen stellte, wie wir in Tunesien oder Ägypten gesehen haben. Gleichzeitig wird das Land von regionalen und Stammesspaltungen zerrissen; diese haben eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung für oder Gegnerschaft zu Gaddafi gespielt. Eine „nationale“ Spielart des Islamismus scheint auch seit Beginn der Revolte eine Rolle gespielt zu haben, obgleich die Rebellion anfangs einen breiteren gesellschaftlichen Ansatz hatte als nur die Bestimmung durch Stammes- oder islamistische Motive. Die wichtigste Industrie in Libyen ist die Ölindustrie, und die Unruhen im Land haben den Ölpreis stark beeinflusst. Aber ein Großteil der in der Ölindustrie beschäftigten Arbeiter sind Migranten aus Europa, den anderen Ländern des Mittleren Ostens, aus Asien und Afrika. Und obgleich es anfangs Berichte über Streiks in diesem Wirtschaftsbereich gab, ist die Massenflucht der ausländischen Arbeiter ein deutliches Anzeichen dafür, dass sie sich kaum mit dieser ‚Revolution’ identifizieren können, in der die Nationalfahne geschwenkt wird. Von Verfolgungen und Übergriffen gegen schwarze Arbeitskräfte durch „Rebellen“ wurde berichtet, da es weitverbreitete Gerüchte gab, dass einige der angeheuerten Söldner aus schwarzafrikanischen Staaten stammen sollten, wodurch sich ein allgemeines Misstrauen gegenüber allen schwarzafrikanischen Migranten ausbreitete. Die Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen ist somit ein entscheidendes Merkmal bei der negativen Entwicklung der Lage dort.

Imperialistische Geier vor Nordafrika…

9. Ein klarer Beleg, dass die ‘Rebellion’ zu einem Krieg zwischen bürgerlichen Lagern entartet ist, ist die überstürzte Abkehr von hochrangigen Offiziellen von Gaddafi (dazu gehören Botschafter im Ausland, Armee- und Polizeioffiziere und Beamte). Die militärischen Befehlshaber insbesondere sind bei der „Regularisierung“ der bewaffneten Gaddafi-Gegner immer mehr in den Vordergrund gerückt. Aber das vielleicht deutlichste Zeichen ist die Entscheidung der „internationalen Gemeinschaft“, sich auf die Seite der ‚Rebellen’ zu stellen. Der Übergangsnationalrat in Bengasi ist von Frankreich schon als die Stimme des neuen Libyens anerkannt worden, und eine winzige Militärintervention hat auch schon in der Form der Entsendung von „Beratern“ für die Gaddafi-Gegner stattgefunden. Nachdem man schon diplomatisch eingegriffen hatte, um den Rücktritt von Ben Ali und Mubarak zu beschleunigen, fühlten sich die USA und Großbritannien durch das Taumeln des Gaddafi-Regimes am Anfang der Protestbewegung ermuntert. So kündigte zum Beispiel William Hague überstürzt an, dass sich Gaddafi schon auf der Flucht nach Venezuela befände. Nachdem Gaddafis Kräfte dabei waren, die Oberhand zu gewinnen, wurde das Gerede über die Einrichtung einer Flugverbotszone oder anderer Formen militärischen Eingreifens immer lauter. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels scheint es jedoch tiefgreifende Divergenzen zu geben innerhalb der EU und der NATO, wobei Großbritannien und Frankreich am stärksten für ein militärisches Eingreifen plädieren, und die USA und Deutschland am stärksten zögern. Die Obama-Administration ist natürlich nicht aus Prinzip gegen militärische Interventionen, aber sie möchte sich nicht der Gefahr aussetzen, ein weiteres militärisches Fiasko in der arabischen Welt zu erleben. Es kann auch sein, dass einige Teile der herrschenden Klasse auf der Welt meinen, dass Gaddafis „Vorgehensweise“ der Terrorisierung der Massen eine Methode sein kann, eine abschreckende Wirkung vor weiteren Unruhen in der Region auszuüben. Eins ist jedoch sicher: Die Ereignisse in Libyen wie auch die ganze Entwicklung in der Region haben die groteske Heuchelei der Herrschenden dieser Welt an den Tag gelegt. Nachdem man jahrelang Gaddafis Libyen als eine Brutstätte des internationalen Terrorismus beschimpft hatte (was es natürlich auch war), freuten sich die Führer von Ländern wie die USA oder Großbritannien, nachdem Gaddafi einen scheinbaren Sinneswandel vollzogen hatte und seine Massenvernichtungswaffen 2006 aufgab, weil die Regierungen dieser Länder nach Rechtfertigungen suchten, ihre Haltung gegenüber den angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins zu begründen. Insbesondere Tony Blair hatte große Eile, den früheren “verrückten Terroristenführer” zu umarmen. Nur wenige Jahre später wird Gaddafi wieder ein verrückter Terroristenführer genannt, und diejenigen, die ihn vorher unterstützt haben, müssen jetzt strampeln, um sich von ihm zu distanzieren. Und dies ist nur eine Version der gleichen Geschichte – all die neulich verjagten oder noch immer an der Macht befindlichen arabischen Diktatoren sind von den USA und anderen Mächten loyal unterstützt worden, und diese haben bislang wenig Interesse an den „demokratischen Bestrebungen“ der Menschen in Tunesien, Ägypten, Bahrain oder Saudi-Arabien gezeigt. Die durch die Preissteigerungen und den Gütermangel verursachten Straßenproteste gegen die irakische Regierung, welche von den USA in den Sattel gehievt wurde, wie auch gegen die gegenwärtigen Herrscher im kurdischen Irak, auf die die Regierung mit Repression antwortete, zeigen auch, wie verlogen die Versprechen des „demokratischen Westens“ sind.

Wird die Demokratie einen neuen Aufschwung erfahren? Zu den Perspektiven…

10. Einige internationalistische Anarchisten in Kroatien meinten auf www.libcom.org, dass die Ereignisse in den arabischen Staaten aus ihrer Sicht wie eine Neuauflage der Ereignisse in Osteurope 1989 erscheinen, wo als die Bestrebungen nach Wandel durch den Begriff “Demokratie” sterilisiert wurden und keine Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse eingetreten ist. Dies ist eine sehr legitime Sorge, wenn man das große Gewicht der demokratischen Verschleierungen innerhalb dieser neuen Bewegung betrachtet, aber verliert man damit nicht aus den Augen, dass es einen wesentlichen Unterschier gibt auf der Ebene der Konfiguration der Klassen weltweit. Als der Ostblock 1989 zusammenbrach, hatte die Arbeiterklasse den Höhepunkt einer Reihe von Kämpfen, die sich seinerzeit politisch nicht weiterentwickelt hatten, überschritten. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die danach ausgelösten Kampagnen über den angeblichen Tod des Kommunismus und das Ende des Klassenkampfes sowie das Unvermögen der Arbeiter Osteuropas auf dem eigenen Klassenterrain zu reagieren, bewirkten einen längeren Rückschlag für die Arbeiterklasse international. Obgleich die stalinistischen Regime in Wirklichkeit unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise litten, gab es für die Länder im Westen noch immer einen gewissen wirtschaftlichen Spielraum, um den Eindruck zu erwecken, dass der globale Kapitalismus vor einer neuen Blüte stand. Heute stehen wir vor einer anderen Lage. Das globale Ausmaß der kapitalistischen Krise ist nie so offensichtlich gewesen, so dass die Arbeiter heute im Wesentlichen überall auf der Welt erkennen müssen, dass sie vor den gleichen Problemen stehen: Arbeitslosigkeit, steigenden Preisen, mangelnden Perspektiven innerhalb dieses Systems. Und während der letzten sieben, acht Jahre ist es zu einem langsamen aber richtigen Wiedererstarken der Arbeiterkämpfe auf der ganzen Welt gekommen. An der Spitze dieser Kämpfe stand meistens eine neue Generation von ArbeiterInnen, die weniger durch die Rückschläge der 1980er und 1990er Jahre geprägt war, und aus denen weltweit politisierte Minderheiten hervorgegangen sind. In Anbetracht dieser tiefgreifenden Unterschiede besteht die Aussicht, dass die Ereignisse in der arabischen Welt keine negative Auswirkungen auf den Klassenkampf in den zentralen Ländern haben, sondern zur allgemeinen Verstärkung des Klassenkampfes beitragen werden.

– Durch die Bekräftigung der Macht der massiven und illegalen Straßenaktionen; deren Fähigkeit, dafür zu sorgen, dass die Herrschenden der Welt ihre Selbstbeherrschung verlieren.

– Indem die bürgerliche Propaganda von den „Arabern“ als eine gleichförmige Masse von gehirnlosen Fanatikern durchkreuzt wird, und die Fähigkeit der Massen dieser Regionen zum Diskutieren, Nachdenken und Selbstorganisierung deutlich geworden ist.

– Indem auch die Glaubwürdigkeit der Führer der zentralen Länder untergraben wird, deren Bestechlichkeit und Skrupellosigkeit durch deren Wendungen gegenüber der arabischen Welt entblößt wurde.

Diese sowie andere Punkte werden politisierten Minderheiten eher in die Augen stechen als der Mehrheit der Arbeiter in den Industriestaaten, aber langfristig werden sie zur wirklichen Vereinigung des Klassenkampfes über alle nationalen und kontinentalen Grenzen hinweg beitragen. Aber dies schmälert nicht die Verantwortung und die Last der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern, die jahrelange Erfahrung mit den Freuden der ‚Demokratie’ und ‚unabhängigen Gewerkschaften’ haben, deren historische und politische Traditionen tief, wenn nicht gar breit verwurzelt und im Herzen des weltimperialistischen Systems gebündelt sind. Die Fähigkeit der Arbeiterklasse in Nordafrika und im Nahen & Mittleren Osten mit den demokratischen Illusionen zu brechen und den verarmten Massen der Bevölkerung einen anderen Weg aufzuzeigen, hängt von der Fähigkeit der Arbeiter in den zentralen Ländern ab, ihnen ein Beispiel eines selbstorganisierten und politisierten Arbeiterkampfes zu geben. IKS, 11. 3.2011

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Libyen: Volksaufstand, Bürgerkrieg oder militärische Aggression?

Quelle: http://ch.indymedia.org/de/2011/03/80660.shtml
von Mohamed Hassan*

Seit drei Wochen stehen sich dem Colonel Gaddafi ergebene Truppen und aus dem Osten des Landes stammende Oppositionskräfte gegenüber. Wird Gaddafi – nach Ben Ali und Mubarak – der nächste Diktator sein, der fällt? Ist das, was sich in Libyen abspielt, mit den Volksaufständen in Tunesien und Ägypten vergleichbar? Wie sind die Eskapaden und Verwandlungen des Colonel zu verstehen? Warum bereitet die NATO den Krieg vor? Wie lässt sich der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Araber verstehen?

In diesem neuen Kapitel unserer Serie „Die islamische Welt verstehen“ antwortet Mohamed Hassan auf diese Forschung und Handeln betreffenden Fragen.

(Interview: Grégoire Lalieu & Michel Collon)

Hat die arabische Revolution nach Tunesien und Ägypten jetzt auf Libyen übergegriffen?

Was sich derzeit in Libyen abspielt, ist andersartig. In Tunesien und Ägypten war der Mangel an Freiheiten augenscheinlich. Aber es sind die beklagenswerten sozialen Verhältnisse, die die Jungen tatsächlich zum Aufstand getrieben haben. Tunesier und Ägypter hatten keine Zukunftsaussichten.

Das Regime Muammar Gaddafis ist korrupt, nimmt einen großen Teil der Reichtümer in Beschlag und hat immer unnachsichtig jeden Protest unterdrückt. Aber die sozialen Bedingungen der Libyer sind besser als die in den Nachbarländern. Die Lebenserwartung in Libyen ist höher als im Rest Afrikas. Gesundheits- und Erziehungssystem sind ganz ordentlich. Libyen ist übrigens eines der ersten afrikanischen Länder, das die Malaria ausgerottet hat. Auch wenn es starke Ungleichheiten in der Verteilung des Reichtums gibt, beläuft sich das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner auf 11 000 Dollar – eines der höchsten in der arabischen Welt. In Libyen findet man also nicht die gleichen objektiven Bedingungen vor, wie sie zu den Volksaufständen in Tunesien und Ägypten geführt haben.

Wie erklären Sie dann das, was sich gerade in Libyen abspielt?

Um die derzeitigen Ereignisse gut zu verstehen, müssen wir sie in ihrem geschichtlichen Zusammenhang betrachten. Libyen war früher eine ottomanische Provinz. 1830 bemächtigte sich Frankreich Algeriens. Außerdem betrieb der unter der Oberherrschaft des ottomanischen Reichs stehende ägyptische Gouverneur Mohamed Ali eine zunehmend unabhängige Politik. Mit den Franzosen in Algerien auf der einen Seite und Mohamed Ali in Ägypten auf der anderen fürchteten die Ottomanen, die Kontrolle über die Region zu verlieren: sie schickten ihre Truppen nach Libyen.

Zu dieser Zeit übte die Bruderschaft der Senoussis im Land einen sehr starken Einfluss aus. Sie war von Said Mohammed Ibn Ali as Senoussi gegründet worden, einem Algerier, der, nachdem er in seinem Land und in Marokko studiert hatte, seine Sichtweise des Islam in Tunesien und Libyen predigte.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann Senoussi, zahlreiche Anhänger zu gewinnen, aber er wurde von gewissen ottomanischen religiösen Autoritäten, die er in seinen Predigten kritisierte, nicht gut angesehen. Nach einer Reise nach Ägypten und Mekka beschloss Senoussi, endgültig in die Kyrenaika im Osten Libyens ins Exil zu gehen. (Die Kyrenaika ist eine der drei historischen libyschen Großprovinzen, Anm. d. Übers.).

Seine Bruderschaft entwickelte sich dort und organisierte das Leben in dieser Region, indem sie dort Steuern erhob, Konflikte zwischen den Stämmen schlichtete usw.. Sie besaß sogar ihre eigene Armee und bot Begleitdienste für die Händlerkarawanen an, die dort durchreisten. Letztendlich wurde die Senoussi-Bruderschaft zur faktischen Regierung der Kyrenaika, wobei sie ihren Einfluss sogar bis in den Norden des Tschad ausdehnte. Dann jedoch setzten sich die europäischen Kolonialmächte in Afrika fest, wobei sie die Subsahararegion des Kontinents aufteilten. Das hatte negative Auswirkungen für die Senoussis. Zusätzlich erschütterte die Invasion Libyens durch Italien ernsthaft die Vorherrschaft der Bruderschaft in der Region.

2008 zahlte Italien an Libyen Entschädigungen für die Kolonialverbrechen. War die Kolonialisierung denn so schlimm? Oder wollte Berlusconi sich bloß beliebt machen, um Handelsabkommen mit Gaddafi abzuschließen?

Die Kolonialisierung Libyens war fürchterlich. Zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts begann eine faschistische Gruppe, eine Propaganda zu verbreiten, welche vorgab, dass Italien – das durch die äthiopische Armee in der Schlacht von Adua 1896 besiegt worden war – die Vorherrschaft des weißen Mannes auf dem schwarzen Kontinent wiederherstellen müsse. Man müsse die große zivilisierte Nation von dem Angriff reinwaschen, der ihr von den Barbaren zugefügt worden war. Diese Propaganda behauptete, Libyen sei ein wildes, von einigen rückständigen Nomaden bewohntes Land, und es sei den Italienern angemessen, sich in dieser angenehmen Region mit ihrer Postkartenlandschaft niederzulassen.

Die Invasion in Libyen führte zum italienisch-türkischen Krieg von 1911, einem besonders blutigen Konflikt, der mit dem Sieg Italiens ein Jahr später endete. Allerdings kontrollierte die europäische Macht nur die Region Tripolitanien (die zweite der drei historischen Großprovinzen, im Nordwesten Libyens; Anm. d. Übers.) und musste sich mit einem hartnäckigen Widerstand im Rest des Landes, speziell der Kyrenaika, auseinandersetzen. Der Clan der Senoussis unterstützte dort Omar al Mokthar, der einen bemerkenswerten Guerillakampf in den Bergen leitete. Er fügte der italienischen Armee ernsthafte Schäden zu, obwohl sie besser ausgerüstet und zahlenmäßig überlegen war.

Zu Beginn der dreißiger Jahre ergriff Mussolinis Italien schließlich radikale Maßnahmen, um den Widerstand zu beseitigen. Die Unterdrückung wurde extrem gewalttätig und einer ihrer hauptsächlichen Metzger, der General Rodolfo Graziani, schrieb: „Die italienischen Soldaten waren überzeugt, dass sie in einer edlen und und zivilisatorischen Mission unterwegs waren.(…) Sie waren es sich schuldig, diese menschliche Pflicht zu erfüllen, koste es was es wolle.(…) Wenn die Libyer sich nicht vom Wohlbegründetsein dessen, was ihnen vorgeschlagen wurde, überzeugen ließen, würden die Italiener einen dauerhaften Kampf gegen sie führen und das ganze libysche Volk zerstören müssen, um zum Frieden zu gelangen, zur Friedhofsruhe…“

2008 zahlte Silvio Berlusconi Entschädigungen für die Kolonialverbrechen an Libyen. Das geschah natürlich aus Eigeninteresse: Berlusconi wollte sich bei Gaddafi lieb Kind machen, um Wirtschaftspartnerschaften abzuschließen. Dessen ungeachtet kann man sagen, dass das libysche Volk schrecklich unter dem Kolonialismus gelitten hat. Es wäre nicht übertrieben, hier von Völkermord zu sprechen.

Wie errang Libyen seine Unabhängigkeit?

Während die italienischen Kolonisten den Widerstand in der Kyrenaika unterdrückten, ging der Chef der Senoussis, Idriss, nach Ägypten ins Exil, um mit den Engländern zu verhandeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das europäische Kolonialreich zunehmend zerschlagen, und Libyen wurde 1951 unabhängig. Idriss übernahm – unterstützt von Großbritannien – die Macht. Ein Teil der libyschen Bourgeoisie – beeinflusst durch den arabischen Nationalismus, der sich in Kairo entwickelte – wünschte jedoch, dass Libyen an Ägypten angegliedert würde. Aber die imperialistischen Mächte wollten keine große arabische Nation sich entwickeln sehen. Sie unterstützten daher die Unabhängigkeit Libyens, indem sie ihre Marionette Idriss dort platzierten.

Entsprach der König Idriss ihren Erwartungen?

Voll und ganz. Mit der Unabhängigkeit fanden sich die drei Regionen, aus denen Libyen gebildet wird – Tripolitanien, der Fessan und die Kyrenaika – in einem bundesstaatlichen System vereint. Man muss jedoch wissen, dass das libysche Territorium dreimal größer als Frankreich ist. Infolge des Mangels an Infrastrukturen konnten die Grenzen dieses Territoriums erst nach der Erfindung des Flugzeugs klar bestimmt werden. Und 1951 zählte das Land nur eine Million Einwohner. Außerdem hatten die drei neu vereinten Regionen eine sehr unterschiedliche Kultur und Geschichte. Schließlich fehlten dem Land auch Straßen, die es den Regionen erlaubt hätten, miteinander zu kommunizieren. Tatsächlich befand sich Libyen in einem sehr rückständigen Zustand, es war keine wirkliche Nation.

Können Sie dieses Konzept näher erläutern?

Der Nationalstaat ist ein Konzept, das mit dem Erscheinen der Bourgeoisie und des Kapitalismus verknüpft ist. In Europa wollte die kapitalistische Bourgeoisie während des Mittelalters ihren Handel in möglichst großem Maßstab entwickeln, wurde aber durch sämtliche Zwänge des Feudalsystems gebremst. Die Gebiete waren in zahlreiche kleine Einheiten zerstückelt, was die Händler zwang, eine große Anzahl von Abgaben zu entrichten, um eine Ware von einem Ort zum anderen zu liefern; die verschiedenen Privilegien, die man sich bei den Feudalherren verschaffen musste, sind dabei noch nicht einmal mitgezählt. Alle diese Hemmnisse wurden von den bürgerlich-kapitalistischen Revolutionen abgeschafft, welche die Bildung von Nationalstaaten mit großen nationalen Märkten ohne Hindernisse erlaubten.

Aber die libysche Nation war gebildet worden, als sie sich noch in einem vorkapitalistischen Stadium befand. Ihr fehlten Infrastrukturen, ein großer Teil der Bevölkerung bestand aus Nomaden, die unmöglich kontrolliert werden konnten, die Aufspaltungen innerhalb der Gesellschaft waren sehr stark, die Sklaverei wurde noch praktiziert… Außerdem hatte König Idriss keinerlei Plan für die Entwicklung des Landes. Er war vollkommen von den Hilfen der USA und Großbritanniens abhängig.

Warum unterstützten ihn Großbritannien und die USA? Wegen des Öls?

1951 war das libysche Öl noch gar nicht entdeckt. Aber die Angelsachsen hatten Militärbasen in diesem Land, das eine strategische Position hinsichtlich der Kontrolle des Roten Meers und des Mittelmeers einnimmt.

Erst 1954 entdeckte ein reicher Texaner, Nelson Bunker Hunt, das libysche Öl. Zu dieser Zeit wurde das arabische Öl für 90 Cent pro Barrel verkauft. Aber das libysche Öl wurde für 30 Cent gekauft, so rückständig war das Land. Es war vielleicht das ärmlichste ganz Afrikas.

Geld kam jetzt aber wegen des Öls herein. Wozu diente es?

König Idriss und sein Clan bereicherten sich persönlich. Ebenso verteilten sie einen Teil der Öleinkünfte an die Chefs der anderen Stämme, um die Spannungen zu mildern. Dank des Petroleumhandels entwickelte sich eine kleine Elite, und einige Infrastrukturen wurden aufgebaut, vor allem an der Mittelmeerküste, dem für den Außenhandel interessantesten Teil. Aber die ländlichen Zonen im Landesinneren blieben äußerst arm, und Massen von Armen sammelten sich in den Elendsvierteln rund um die Städte. Das ging so bis 1969, als drei Offiziere den König stürzten. Unter ihnen befand sich Gaddafi.

Wieso ging die Revolution von Armeeoffizieren aus?

In einem tiefgreifend von Stammesaufteilungen gekennzeichneten Land war die Armee tatsächlich die einzige nationale Institution. Libyen als solches existierte nur mittels dieser Armee. Daneben besaßen die Senoussis des Königs Idriss ihre eigene Miliz. Aber in der nationalen Armee konnten sich die aus verschiedenen Regionen und Stämmen kommenden Jugendlichen zusammenfinden.

Gaddafis Entwicklung fand zunächst innerhalb einer nasseristischen Gruppe statt, aber als er begriff, dass diese Formation nicht in der Lage sein würde, die Monarchie zu stürzen, engagierte er sich in der Armee. Die drei Offiziere, die König Idriss absetzten, waren sehr durch Nasser beeinflusst. Gamal Abdel Nasser selbst war ein Offizier der ägyptischen Armee, die König Faruk stürzte. Vom Sozialismus inspiriert, stellte sich Nasser der Einmischung der neokolonialen Mächte entgegen und pries die Einheit der arabischen Welt. Er nationalisierte im Übrigen den Suezkanal, der bis dahin von Frankreich und Großbritannien betrieben wurde, wodurch er sich 1956 Wut und Bombardierungen seitens des Westens zuzog.

Der revolutionäre Panarabismus Nassers hatte eine bedeutende Auswirkung auf Libyen, besonders innerhalb der Armee und auf Gaddafi. Die libyschen Offiziere im Umkreis des Staatsstreichs von 1969 folgten den gleichen Vorstellungen wie Nasser.

Welche Auswirkungen hatte die Revolution in Libyen?

Gaddafi hatte zwei Möglichkeiten. Entweder das libysche Öl in den Händen der westlichen Gesellschaften belassen, wie es König Idriss getan hatte. Libyen wäre dann wie die Öl-Monarchien am Golf geworden, wo die Sklaverei noch praktiziert wird, wo die Frauen keinerlei Rechte haben und wo europäische Architekten die Sau damit rauslassen können, ausgeflippte Türme mithilfe von Geldern in astronomischer Höhe zu bauen, die in Wirklichkeit aus den Reichtümern der arabischen Völker stammen. Oder aber einen Weg gehen, der von den neokolonialen Mächten unabhängig war. Gaddafi hat diese zweite Möglichkeit gewählt, er hat das libysche Öl nationalisiert, wodurch er die Wut der Imperialisten hervorrief.

In den fünfziger Jahren macht ein Witz im Weißen Haus die Runde, im Inneren der Eisenhower-Administration, der sich dann unter Reagan zu einer regelrechten politischen Theorie entwickelte. Wie unterscheidet man die guten von den schlechten Arabern? Ein guter Araber macht das, was ihm die Vereinigten Staaten sagen. Als Gegenleistung bekommt er Flugzeuge, man erlaubt ihm, sein Geld in der Schweiz anzulegen, er wird nach Washington eingeladen usw.. Eisenhower und Reagan benannten die guten Araber: die Könige von Saudiarabien und Jordanien, die Scheichs und Emire aus Kuweit und vom Golf, den Schah des Iran, den König von Marokko und natürlich König Idriss aus Libyen. Die schlechten Araber? Diejenigen, die Washington nicht gehorchten: Nasser, Gaddafi, später dann Saddam…

Trotzdem, Gaddafi ist nicht sehr…

Gaddafi ist kein schlechter Araber, weil er in die Menge schießen lässt. Man macht das Gleiche in Saudiarabien oder Bahrain, und die Führer dieser Länder erhalten alle Ehrungen des Westens. Gaddafi ist ein schlechter Araber, weil er das libysche Öl nationalisiert hat, das die westlichen Gesellschaften – bis zur Revolution 1969 – als ihr Eigentum betrachteten. Indem er dies tat, brachte Gaddafi Libyen positive Veränderungen auf der Ebene von Infrastrukturen, Erziehung, Gesundheit, Lage der Frauen usw..

Gut, Gaddafi stürzt die Monarchie, nationalisiert das Öl, stellt sich den imperialen Mächten entgegen und bringt Libyen positive Veränderungen. Trotzdem, nach vierzig Jahren ist er ein korrupter Diktator, der die Opposition unterdrückt und erneut die Tore des Landes für die westlichen Gesellschaften öffnet. Wie kann man diesen Wandel erklären?

Von Anfang an hat sich Gaddafi den großen Kolonialmächten entgegengestellt und großzügig diverse Befreiungsbewegungen in der Welt unterstützt. Ich finde, dass er in dieser Hinsicht sehr gut war. Aber der Vollständigkeit halber muss man auch klarstellen, dass der Colonel antikommunistisch war. 1971 zum Beispiel ließ er ein Flugzeug, welches sudanesische kommunistische Dissidenten transportierte, Richtung Sudan umleiten, wo sie sofort von Präsident Numeiri exekutiert wurden.

Tatsächlich war Gaddafi niemals ein großer Visionär. Seine Revolution war die eines bürgerlichen Nationalisten, und er hat in Libyen einen Staatskapitalismus installiert. Um zu verstehen, wie sein Regime abgedriftet ist, müssen wir den Kontext, welcher sich nicht zu seinen Gunsten auswirkte, untersuchen, aber auch die persönlichen Irrtümer des Colonels.
Wir haben zunächst gesehen, wie der Colonel in Libyen aus dem Nichts hervorgegangen ist. Das Land war sehr rückständig. Es gab daher keine gebildeten Leute oder eine starke Arbeiterklasse, die die Revolution hätten unterstützen können. Die Mehrzahl der Menschen, die eine Ausbildung erfahren hatten, waren Teil der Elite, welche die libyschen Reichtümer an die neokolonialen Mächte verramschte. Selbstverständlich kamen diese Leute nicht der Revolution zu Hilfe, und die Mehrzahl von ihnen verließ das Land, um die Opposition im Ausland zu organisieren.

Darüber hinaus waren die libyschen Offiziere, die König Idriss stürzten, sehr von Nasser beeinflusst. Ägypten und Libyen planten übrigens, eine strategische Partnerschaft einzugehen. Aber der Tod Nassers 1970 ließ das Vorhaben ins Wasser fallen, und Ägypten wurde ein konterrevolutionäres, auf den Westen ausgerichtetes Land. Der neue ägyptische Präsident, Anwar al-Sadat, näherte sich den Vereinigten Staaten an, liberalisierte zunehmend die Wirtschaft und verbündete sich mit Israel. 1977 brach sogar ein kurzer Konflikt aus. Stellen Sie sich die Lage vor, in der sich Gaddafi befand: das Land, das ihn inspiriert hatte, und mit dem er eine Allianz von größter Wichtigkeit hätte abschließen müssen, wurde plötzlich sein Feind!

Noch ein anderes Element wirkte sich in diesem Zusammenhang zu Ungunsten der libyschen Revolution aus: der erhebliche Rückgang des Ölpreises in den achtziger Jahren. 1973 beschlossen die Ölerzeugerländer – im Zusammenhang mit dem israelisch-arabischen Krieg – ein Embargo, durch das der Preis des Barrels blitzartig nach oben schoss. Dieses Embargo rief den ersten großen Reichtumstransfer vom Norden in den Süden hervor. Aber in den achtziger Jahren fand das statt, was man eine Öl-Konterrevolution nennen könnte, welche von Reagan und den Saudis in Szene gesetzt wurde. Saudiarabien erhöhte seine Ölproduktion beträchtlich und überflutete damit den Markt, was einen radikalen Preisverfall hervorrief. Der Preis des Barrels sank von 35 auf 8 Dollar.

Hat sich Saudiarabien damit nicht selbst ins Bein geschossen?

Das hatte in der Tat negative Auswirkungen auf die saudische Wirtschaft. Aber Öl ist nicht das Wichtigste für Saudiarabien. Seine Beziehung zu den Vereinigten Staaten rangiert vor allem anderen, denn es ist die Hilfe aus Washington, die es dem saudischen Herrscherhaus ermöglicht, sich an der Macht zu halten.

Der Erdrutsch der Ölpreise hatte katastrophale Folgen für zahlreiche ölerzeugende Länder, die sich daraufhin verschuldeten. Und das alles spielte sich nur zehn Jahre nach Gaddafis Machtergreifung ab. Der libysche Führer, aus dem Nichts kommend, sah jetzt zusätzlich die einzigen Mittel, die ihm zur Verfügung standen, um etwas aufzubauen, mit dem Ölpreisverfall wie Schnee in der Sonne schmelzen.

Berücksichtigen Sie zugleich, dass diese Konterrevolution den Fall der UdSSR beschleunigte, die damals in in Afghanistan verstrickt war. Mit dem Verschwinden des sowjetischen Blocks verlor Libyen seine hauptsächliche politische Unterstützung und fand sich sehr isoliert auf der internationalen Szene vor. Die Isolierung war umso größer, als die Reagan-Administration Libyen auf die Liste der Terrorstaaten gesetzt und ihm eine ganze Serie von Sanktionen auferlegt hatte.

Und was ist mit den von Gaddafi begangenen Irrtümern?

Wie ich schon sagte, er war kein großer Visionär. Die rund um sein Grünes Buch entwickelte Theorie ist eine Mischung aus Antiimperialismus, Islamismus, Nationalismus, Staatskapitalismus und noch anderen Dingen. Neben seinem Mangel an politischer Vision hat Gaddafi zunächst einen schweren Fehler begangen, als er den Tschad in den 70er Jahren angriff. Der Tschad ist das fünftgrößte Land Afrikas und der Colonel hat damals, zweifellos in Anbetracht dessen, dass Libyen für seine größenwahnsinnigen Ambitionen zu klein war, den Aozou-Streifen annektiert. Historisch gesehen ist es zutreffend, dass die Senoussi-Bruderschaft ihren Einfluss bis in diese Gegend ausübte. Und 1935 wollte der französische Außenminister Pierre Laval Mussolini kaufen, indem er ihm den Aozou-Streifen anbot. Aber letztendlich näherte Mussolini sich Hitler an, und das Abkommen blieb unbeachtet.

Nichtsdestotrotz wollte Gaddafi dieses Gebiet annektieren und lieferte sich mit Paris einen Kampf um den Einfluss in dieser früheren französischen Kolonie. Zum Schluss haben die Vereinigten Staaten, Frankreich, Ägypten, der Sudan und andere reaktionäre Kräfte der Region die Armee des Tschad unterstützt und die libyschen Truppen zum Rückzug gezwungen. Tausende Soldaten und bedeutende Mengen von Waffen wurden erbeutet. Der Präsident des Tschad, Hissein Habré, verkaufte diese Soldaten an die Reagan-Administration. Und die CIA benutzte sie als Söldner in Kenia und Lateinamerika.

Aber der größte Irrtum der libyschen Revolution besteht darin, alles auf die Ölressourcen gesetzt zu haben. In Wirklichkeit sind ja die menschlichen Ressourcen der größte Reichtum eines Landes. Sie können einer Revolution nicht zum Erfolg verhelfen, wenn Sie nicht die nationale Harmonie, die soziale Gerechtigkeit und eine gerechte Verteilung der Reichtümer entwickeln.
Nun hat der Colonel aber niemals die überkommenen Diskriminierungen in Libyen beseitigt. Wie wollen Sie die Bevölkerung mobilisieren, wenn Sie den Libyern nicht zeigen, dass alle – unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder einem Stamm – gleich sind und gemeinsam für das Wohl der Nation tätig sein können? Die Mehrheit der libyschen Bevölkerung ist arabisch, spricht die gleiche Sprache und teilt die gleiche Religion. Die ethnische Vielfalt ist nicht sehr bedeutend. Es war möglich, die Diskriminierungen abzuschaffen, um die Bevölkerung zu mobilisieren.

Gaddafi war gleichermaßen unfähig, das libysche Volk für die Herausforderungen der Revolution auszubilden. Er hat das politische Bewusstsein seiner Staatsbürger nicht angehoben und hat keine Partei aufgebaut, um die Revolution zu unterstützen.

Aber unmittelbar nach seinem Grünen Buch von 1975 gründet er Volkskomitees, eine Art direkter Demokratie.

Dieser Versuch einer direkten Demokratie war von marxistisch-leninistischen Konzepten beeinflusst. Aber diese Volkskomitees in Libyen stützen sich auf keinerlei politische Analyse, keine klare Weltanschauung. Es handelte sich um einen Fehlschlag. Gaddafi hat auch überhaupt keine politische Partei aufgebaut, um seine Revolution zu unterstützen. Schließlich hat er sich des Volkes bemächtigt. Die libysche Revolution wurde zum Vorhaben einer einzigen Person. Alles drehte sich um diesen charismatischen, von der Realität abgekoppelten Führer. Und wenn die Kluft zwischen einem Führer und seinem Volk größer wird, beginnen Sicherheitsmaßnahmen und Unterdrückung die Leere auszufüllen. Die Exzesse nahmen zu, die Korruption entwickelte sich in beträchtlichem Ausmaß und die Stammesaufspaltungen kristallisierten sich heraus.

Heute treten diese Aufspaltungen in der libyschen Krise wieder zutage. Natürlich gibt es einen Teil der Jugend in Libyen, der der Diktatur überdrüssig und von den Ereignissen in Tunesien und Ägypten beeinflusst ist. Aber diese verbreiteten Gefühle werden von der Opposition im Osten des Landes instrumentalisiert, der seinen Anteil am Kuchen einfordert, wo doch die Verteilung der Reichtümer unter dem Regime Gaddafis sehr ungleich war. Bald werden die wirklichen Widersprüche zutage treten.

Man weiß im Übrigen nicht sehr viel über diese Oppositionsbewegung. Um wen handelt es sich? Was ist ihr Programm? Wenn sie wirklich eine demokratische Revolution durchführen wollten, warum haben sie dann die Fahnen des Königs Idriss wieder ausgegraben, Symbole einer Zeit, als die Kyrenaika die beherrschende Provinz des Landes war? Haben sie die anderen Libyer um ihre Meinung gefragt? Kann man von einer demokratischen Bewegung sprechen, wenn diese Widerständler die Schwarzen der Region massakrieren? Wenn Sie zur Opposition eines Landes gehören, wenn Sie patriotisch sind und wenn Sie Ihre Regierung stürzen möchten, dann versuchen Sie das in richtiger Art und Weise. Sie verursachen keinen Bürgerkrieg in Ihrem eigenen Land und lassen es nicht das Risiko einer Balkanisierung eingehen.

Ihrer Meinung nach würde es sich also eher um einen Bürgerkrieg handeln, der aus den Widersprüchen zwischen den libyschen Clans hervorgeht?

Ich denke, es ist schlimmer. Es gab Widersprüche zwischen den Stämmen, aber sie haben niemals einen solchen Umfang angenommen. Hier nähren die Vereinigten Staaten diese Widersprüche, um militärisch in Libyen eingreifen zu können. Seit den ersten Stunden des Aufstands hat Außenministerin Hillary Clinton vorgeschlagen, den Aufständischen Waffen zu bringen. Erst einmal hat die unter dem Nationalrat organisierte Opposition jede Einmischung ausländischer Mächte zurückgewiesen, weil sie wusste, dass das ihre Bewegung in Verruf bringen würde. Aber heute rufen gewisse Oppositionelle nach einer bewaffneten Intervention.

Seitdem der Konflikt ausgebrochen ist, hat Präsident Obama gesagt, dass er alle möglichen Optionen in Betracht ziehe, und der US-Senat ruft die internationale Gemeinschaft auf, eine Flugverbotszone über das libysche Territorium zu verhängen, was ein wirklicher Kriegsakt wäre. Außerdem ist der Atom-Flugzeugträger USS Enterprise, der im Golf von Aden zur Bekämpfung der Piraterie stationiert war, wieder bis an die libysche Küste hinaufgefahren. Zwei Amphibienschiffe, die USS Kearsage und die USS Ponce, die mehrere Tausend Marinesoldaten und Flotten von Kampfhubschraubern an Bord haben, wurden ebenso im Mittelmeer in Position gebracht.

Vergangene Woche hat sich Louis Michel, der frühere europäische Kommissar für Entwicklung und humanitäre Hilfe der Europäischen Union, mit Nachdruck auf einer Fernsehbühne gefragt, welche Regierung den Mut hätte, vor ihrem Parlament die Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens in Libyen zu verteidigen. Aber Louis Michel hat niemals zu einem solchen Eingreifen in Ägypten oder Bahrain aufgerufen. Warum?

Ist die Repression in Libyen nicht gewaltiger?

Die Repression war sehr gewaltig in Ägypten, aber die NATO hat nie Kriegsschiffe entlang der ägyptischen Küste in Stellung gebracht, um Mubarak zu bedrohen. Man hat gerade eben mal appelliert, einen demokratischen Ausgang zu finden!

Was Libyen angeht, so muss man sehr vorsichtig sein mit Informationen, die uns erreichen. An einem Tag spricht man von 2000 Toten, am nächsten wird die Zahl auf 300 korrigiert. Seit Beginn der Krise wurde auch gesagt, Gaddafi bombardiere sein eigenes Volk, aber die russische Armee, die die Lage mittels Satellit überwacht, hat diese Information offiziell dementiert. Wenn sich die NATO darauf vorbereitet, militärisch in Libyen einzugreifen, können wir sicher sein, dass die herrschenden Medien die übliche Kriegspropaganda ausstrahlen werden.

Tatsächlich ist dieselbe Sache in Rumänien mit Ceaucescu geschehen. Am Abend des Heiligabend 1989 hielt der belgische Premierminister Wilfried Martens eine Ansprache im Fernsehen. Er behauptete, die Sicherheitskräfte Ceaucescus hätten soeben 12 000 Personen getötet. Das war falsch. Die Bilder des berühmten Massengrabs von Timisoara gingen ebenfalls um die Welt. Sie waren dazu bestimmt, die blinde Gewalt des rumänischen Präsidenten zu beweisen. Aber später stellte sich heraus, dass das Ganze eine Inszenierung war: Leichen waren aus der Leichenhalle geholt und in Gräben platziert worden, um die Journalisten zu beeindrucken. Man hat auch gesagt, die Kommunisten hätten das Wasser vergiftet, es seien syrische und palästinensische Söldner in Rumänien gewesen, und außerdem noch, Ceaucescu hätte Waisen ausgebildet, um aus ihnen Tötungsmaschinen zu machen. Das war reine Propaganda, um das System zu destabilisieren.

Letztendlich wurden Ceaucescu und seine Frau getötet, nach einem Scheinprozess, der 55 Minuten dauerte. Natürlich war der rumänische Präsident, genauso wie Gaddafi, kein Chorknabe. Aber was hat sich danach ereignet? Rumänien ist eine Halbkolonie Europas geworden. Dort werden die billigen Arbeitskräfte ausgebeutet. Zahlreiche Dienste wurden zugunsten westlicher Gesellschaften privatisiert und sind für einen großen Teil der Bevölkerung unerschwinglich. Und jetzt kommen jedes Jahr Massen von Rumänen und weinen am Grab Ceaucescus. Die Diktatur war eine schreckliche Sache, aber seitdem das Land wirtschaftlich zerstört worden ist, ist es noch schlimmer!

Warum möchten die Vereinigten Staaten Gaddafi stürzen? Seit einem Jahrzehnt ist der Colonel von neuem für den Westen besuchenswert geworden, und er hat einen großen Teil der libyschen Wirtschaft zugunsten westlicher Gesellschaften privatisiert.

Man muss alle diese Ereignisse im Licht der neuen Machtverhältnisse in der Welt analysieren. Die imperialistischen Mächte befinden sich im Niedergang, während andere Kräfte sich in vollem Aufschwung befinden. Vor kurzem hat China vorgeschlagen, die Schulden Portugals abzulösen! In Griechenland steht die Bevölkerung dieser Europäischen Union zunehmend feindlich gegenüber, die sie als Deckmantel des deutschen Imperialismus wahrnimmt. Die gleichen Gefühle entwickeln sich in den Ländern des Ostens. Außerdem haben die Vereinigten Staaten den Irak angegriffen, um sich des Öls zu bemächtigen, aber am Ende profitiert nur eine einzige US-Gesellschaft davon, während der Rest von malaiischen und chinesischen Gesellschaften ausgebeutet wird. Kurz, der Imperialismus befindet sich in der Krise.

Außerdem hat die tunesische Revolution den Westen sehr überrascht. Und der Fall Mubaraks noch mehr. Washington versucht, diese Volksbewegungen für seine Ziele einzuspannen, aber ihm entgleitet die Kontrolle. In Tunesien sollte Ministerpräsident Mohamed Ghanouchi, ein reines Produkt der Diktatur Ben Alis, den Übergang gewährleisten und die Illusion eines Wechsels vermitteln. Aber die Entschlossenheit des Volkes zwang ihn abzudanken. In Ägypten zählen die Vereinigten Staaten auf die Armee, um ein ihnen genehmes System aufrechtzuerhalten. Aber mich erreichten Informationen, die bestätigen, dass sich junge Offiziere in unzähligen, über das Land verstreuten Kasernen in Solidarität mit dem ägyptischen Volk in Revolutionskomitees organisieren. Sie hätten sogar gewisse mit dem System von Mubarak verbundene Offiziere verhaften lassen.

Die Region könnte der Kontrolle der Vereinigten Staaten entgleiten. In Libyen einzugreifen würde Washington daher ermöglichen, diese revolutionäre Bewegung zu brechen und zu verhindern, dass sie sich auf den Rest der arabischen Welt und auf Afrika ausbreitet. Seit einer Woche revoltieren Jugendliche in Burkina Faso, aber die Medien sprechen davon nicht, genauso wenig wie von den Demonstrationen im Irak.

Die andere Gefahr für die Vereinigten Staaten besteht darin, antiimperialistische Regierungen in Tunesien und Ägypten entstehen zu sehen. In diesem Fall wäre Gaddafi nicht mehr isoliert und könnte auf die mit dem Westen abgeschlossenen Übereinkommen zurückkommen. Libyen, Ägypten und Tunesien könnten sich zusammenschließen und einen antiimperialistischen Block bilden. Mit allen Ressourcen, über die sie verfügen, insbesondere den bedeutenden ausländischen Devisenreserven von Gaddafi, könnten diese drei Länder eine bedeutende Regionalmacht werden. Sie wäre wahrscheinlich einflussreicher als die Türkei.

Aber Gaddafi hat doch Ben Ali unterstützt, als sich das tunesische Volk erhoben hat.

Das zeigt, wie schwach, isoliert und abgeschnitten von der Wirklichkeit er ist. Aber die sich ändernden Machtverhältnisse in der Region könnten die Ausgangslage ändern. Gaddafi könnte die Seite wechseln, das wäre nicht das erste Mal.

Wie könnte sich die Lage in Libyen entwickeln?

Die westlichen Mächte und diese sogenannte Oppositionsbewegung haben den Vermittlungsvorschlag von Chávez zurückgewiesen. Das signalisiert, dass sie keinen friedlichen Ausgang des Konflikts wollen. Aber die Auswirkungen einer Intervention der NATO wären katastrophal. Man hat im Kosovo oder in Afghanistan gesehen, wohin das führt.

Darüber hinaus könnte eine militärische Aggression das Eindringen islamistischer Gruppen nach Libyen begünstigen, die sich vor Ort bedeutsamer Arsenale bemächtigen könnten. Al Kaida könnte einsickern und aus Libyen einen zweiten Irak machen. Es gibt übrigens schon bewaffnete Gruppen in Niger, die niemand zu kontrollieren vermag. Ihr Einfluss könnte sich auf Libyen, auf den Tschad, auf Mali, auf Algerien ausdehnen… Wirklich, mit dem Vorbereiten einer militärischen Intervention ist der Imperialismus dabei, sich die Tore zur Hölle zu öffnen!

Die Schlussfolgerung lautet: das libysche Volk verdient etwas Besseres als diese Oppositionsbewegung, die das Land ins Chaos stürzt. Es bräuchte eine wirkliche demokratische Bewegung, um das Gaddafi-Regime zu ersetzen und soziale Gerechtigkeit herzustellen. Auf jeden Fall verdienen die Libyer keine militärische Aggression. Die im Niedergang befindlichen imperialistischen Kräfte scheinen jedoch eine konterrevolutionäre Offensive in der arabischen Welt vorzubereiten. Libyen anzugreifen ist ihre Notlösung. Aber das würde ihnen auf die Füße fallen.

Quelle: www.michelcollon.info

*Mohamed Hassan ist ein Spezialist für Geopolitik und die arabische Welt. Geboren in Addis Abeba (Äthiopien), nahm er an den Studentenbewegungen im Rahmen der sozialistischen Revolution von 1974 in seinem Land teil. Er studierte politische Wissenschaften in Ägypten, bevor er sich in der öffentlichen Verwaltung in Brüssel spezialisierte. Als Diplomat seines Ursprungslands arbeitete er in den 90er Jahren in Washington, Peking und Brüssel. Als Mitautor von “Der Irak unter der Besatzung” (“L’Irak sous l’occupation”, EPO, 2003) nahm er außerdem an Arbeiten über den arabischen Nationalismus und die islamischen Bewegungen und über den flämischen Nationalismus teil. Er ist einer der besten zeitgenössischen Kenner der arabischen und muslimischen Welt.

Übersetzung aus dem Französischen: H. Eckel

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Mexiko: Rundbrief März 2011

Oaxaca

Oaxaca in Aufruhr
Mexikos Präsident Felipe Calderón besuchte am 15.2. Oaxaca, wo er den neuen Sitz der Privatuniversität La Salle einweihte. Am Vortag hatte er bekannt gegeben, dass Unterrichtsgebühren der privaten Bildungseinrichtungen von den Steuern abgezogen werden können. Ein Steuergeschenk an die Reichen in der Höhe von schätzungsweise 800 Millionen Euro. Gegen diese neoliberale Politik protestierten die Mitglieder der LehrerInnengewerkschaft Sektion 22. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstrierenden vor. Dabei wurden 16 Personen verletzt, darunter ein Journalist mit einem Beinschuss sowie der ehemalige APPO-Sprecher und Gewerkschafter Marcelino Coache. Dieser wurde von der Polizei mit einem aus nächster Nähe abgefeuerten Tränengaspetarde am Kopf schwer verletzt. 17 Personen wurden vorübergehend gefangen genommen.

Am Tag darauf gab die mexikanische Bildungsgewerkschaft SNTE ihre Antwort auf die massive Repression. 72.000 Lehrerinnen und Lehrer legten die Arbeit nieder, 16 Bundesstrassen in ganz Oaxaca wurden blockiert und in Oaxaca-Stadt fand eine Grossdemonstration mit schätzungsweise 25.000 Teilnehmern statt.

Weitere Infos [1] [2]

Fotos

Pressemitteilung der Deutschen Menschenrechtskoordination zu den Ereignissen in Oaxaca

Bei einem Besuch der Gattin von Felipe Calderón Anfang März in einer Gemeinde von Oaxaca wurde erneut Protest gewaltsam unterdrückt. Wie die Lehrergewerkschaft bekannt gab, ging die Gewalt von derselben Person in Zivil aus, welche auch am 15. Februar die Krawalle provozierte. Die Person scheint ein Kommandant der präsidialen Sicherheitskräfte (Estado Mayor Presidencial) zu sein.

Fotos

Chiapas

Subcomandante Marcos meldet sich zurück
Am 16.2. gelangte der Sub mit einem neuen Communique »über Kriege« an die Öffentlichkeit. Darin analysiert er Felipe Calderóns »Krieg gegen die Drogen«, bei dem seit seinem Amtantritt als Präsident mehr als 34’600 Menschen getötet wurden. Marcos berechnet, dass der Krieg zwischen 2007 und 2010 rund 30 Milliarden US-Dollar gekostet hat. Er nennt den Krieg einen »Eroberungskrieg« im Interesse der mexikanischen Machtcliquen und des ausländischen Kapitals. Begleitet werde dieser von Repressionen gegen soziale Bewegungen und einem »Krieg gegen würdige Arbeit und gerechte Löhne«.

Artikel dazu

Auszüge aus dem Communique

Agua Azul: Kriminalisierung des Widerstands gegen das Tourismusprojekt
Im Konflikt um das Kassenhäuschen in Agua Azul, der einen Toten und zwei Verletzte gefordert hatte, sind am 5. März weitere vier Inhaftierte der Anderen Kampagne freigelassen worden. Noch sind 6 Personen, darunter ein Minderjähriger in Haft.

Am 19. Februar besuchte eine Solidaritätskarawane San Sebastián Bachajón, um die Solidarität mit den Mitgliedern der Anderen Kampagne zu bekunden. Für die Eskalation der Konflikte wird die Regierung verantwortlich gemacht. Zur Verwirklichung des Tourismusprojekts in Agua Azul werden Strategien zu Spaltung der Bevölkerung angewendet sowie Auseinandersetzungen provoziert. Das Kassenhäuschen wurde vom Staat konfisziert, was als erster Schritt in Richtung der „Enteignung“ und einer anschliessenden Privatisierung gesehen werden kann. Unter Polizeischutz werden zur Zeit weitere Gebäude errichtet, ohne die Zustimmung der Gemeindeversammlung.

Siehe auch: Solidaritätskarawane besucht Agua Azul in Chiapas (oder Artikel auf Spanisch)

Übergriffe auf Mitglieder der anderen Kampagne
Im Februar fanden insgesamt drei direkte Übergriffe gegen Mitglieder der anderen Kampagne statt. Auch in Küstenregion wurden 16 Personen festgenommen, darunter drei Anwälte des Menschenrechtszentrums Digna Ochoa, sowie Landwirte und Fischer von mindestens fünf Gemeinden. Die drei Anwälte Nataniel Hernández, José María Martínez Cruz und Eduardo Alonso Martínez Silva sind noch immer in Haft. In der Küstenregion mobilisiert sich die andere Kampagne gegen die überhöhten Strompreise und für die Selbstorganisation der Fischer, Bauern und Frauenorganisationen. Auch in Mitzitón fanden im Februar Übergriffe von Seiten der paramilitärischen Gruppierung Ejercito de Dios (Armee Gottes) statt, wobei zwei Personen stark verletzt wurden.

Artikel auf Spanisch:
Detienen a miembros del CARZCC y del Centro Digna Ochoa
Desata protestas la detención de abogados del Centro Digna Ochoa en Chiapas

Guerrero

Analyse des Falles von Rodolfo Montiel und Teodoro Cabrera – Der lange Weg zur Gerechtigkeit
Die Gesichter der Männer sind von Müdigkeit und Entbehrung gezeichnet. Seit zwölf Jahren bewegt sich ihr Leben jenseits der Normalität. Damals, im Jahr 1999, wurden die Bauern und Umweltschützer Rodolfo Montiel und Teodoro Cabrera von Militärs im mexikanischen Bundesstaat Guerrero verhaftet und gefoltert. Die spätere Anklage sprach von illegalem Waffenbesitz und Drogenanbau.

Heute leben beide im Exil. Im Dezember vergangenen Jahres erhielt ihre Hoffnung auf Rehabilitierung und Entschädigung wieder Nahrung, als der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica über ihren Fall entschied und den mexikanischen Staat wegen Menschenrechtsverletzung schuldig sprach.

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Veranstaltungen

Mi. 30.03.2011, 19:00 – 21:00 Uhr: Hinter den Drogenkrieg in Mexiko sehen – eine Veranstaltung mit Abel Barrera vom Menschenrechtszentrum Tlachinollan, Guerrero
Käfigturm, Marktgasse 67, Bern
organisiert von: Peace Brigades International / Propaz / Amnesty International

Buchtipps

Acteal – ein Staatsverbrechen
Ende 2010 wurde der Fall um das Massaker von Acteal zur Behandlung vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zugelassen. Nun ist auch das Buch des Journalisten Hermann Bellinghausen in deutscher Übersetzung erschienen.
Mehr Infos

»Ein unbequemes Leben« von Claude Braun und Michael Rössler über Cornelius Koch
Flüchtlingskaplan Cornelius Koch (1940 – 2001) stand quer in der politischen Landschaft. Er stritt mit seinem Bischof und mit dem Bundesrat. Er polarisierte und brachte Menschen zusammen. Er war widersprüchlich, und er legte Widerspruch ein. Er kämpfte gegen die Abstumpfung des menschlichen Gewissens. Rastlos und beharrlich überschritt er festgelegte Grenzen zwischen Staaten, sozialen Rängen und in den Köpfen.
Mit spektakulären Aktionen erregte er Aufsehen: Sein Bild ging durch Presse und Fernsehen, doch der Mensch dahinter blieb unbekannt. Was bewog Cornelius Koch, sich rückhaltlos für Ausgegrenzte einzusetzen: für Heimzöglinge, Arbeitslose, Flüchtlinge, Sans-Papiers, streikende Arbeiter und lateinamerikanische Indigenas?

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