Zeit der Revolten

Aufstände, wohin man blickt. In vielen, ganz verschiedenen Gegenden der Welt haben in den vergangenen Jahren und Monaten große Demonstrationen und Revolten stattgefunden. Gibt es einen globalen Protest mit gemeinsamen Zielen?

Erstens: Die Welt ist voller Aufstände und die meisten finden in China statt. Zweitens: Die Aufstände lassen sich nicht auf einen Nenner bringen, es sei denn, man ist Liebhaber sinnloser Begriffe wie »Wutbürger« oder »Multitude«. In China sind die Uiguren und zwangsumgesiedelte Familien im Aufstand, in Libyen streiten Clans um das Ölgeld, in Syrien und im Irak toben Stellvertreterkriege, Ägypten taumelt nach dem Militärputsch in den Bürgerkrieg, in vielen dieser Aufstände geht es um die Partizipation am Reichtum der größten Industrialisierungswelle der Geschichte.

In China gab es 2010 nach offizieller Zählung »180 000 kleinere und größere Volksaufstände« mit mehreren hundert Millionen Beteiligten. Meistens geht es um Landraub, Korruption, Zwangsumsiedlungen, Umweltschäden, Vergiftungen, Arbeitsbedingungen, ethnische und religiöse Konflikte (in Tibet verbrennen sich Mönche, in Xinjiang tobt der Bürgerkrieg zwischen Han-Chinesen und Uiguren). China ist das Land mit den meisten Hinrichtungen und der größten Anzahl von Menschen, die für immer verschwinden. Und wenn in China von Korruption die Rede ist, dann geht es nicht um Kleinigkeiten. Der verhaftete Eisenbahnminister besaß 18 Konkubinen, 16 Autos, über 300 Wohnungen und mehrere hundert Millionen in Dollar und Euro. Elvis Presley und Michael Jackson hätten darüber gelacht, aber in China können solche privaten Sammlungen mit dem Tod bestraft werden. Andererseits gelang es 13 000 Einwohnern des Dorfes Wukan, alle Polizisten, Parteifunktionäre und Schlägertrupps zu vertreiben und das Dorf zu verbarrikadieren, bis die Enteignungen zurückgenommen wurden.

Dass die Aufstände in China bei uns weniger im Blick sind als die in den arabischen Ländern, liegt an dem Wunsch, die militärischen Einsätze des Westens am Golf mögen irgendetwas Gutes gebracht haben, und an dem aufs Praktische verengten Denken. Die Wohn- und Kinderzimmer quellen über von Waren Made in China, bei neuen Apple-Lieferungen aus China stehen die Menschen Schlange (»das Design!«), China erzielt hohe Wachstumsraten und im marktwirtschaftlichen Denken ist der Sieger gut, weil er siegt, und der Verlierer schlecht, weil er verliert. Der abgesetzte ägyptische Präsident Mohammed Mursi hat nur eine »inkompetente und ineffektive Mangelverwaltung« (Jungle World) zustande gebracht. »Man braucht … Wirtschaftsprofis, Leute vom Fach, um ein Land aus der politischen und wirtschaftlichen Misere zu führen« (taz). Auch die DDR war vielen Linken nicht zu autoritär, sondern zu unproduktiv. Dass Menschen an der Produktivität zugrunde gehen, wird nur dann wahrgenommen, wenn sie aus den Fabrikfenstern springen oder in der Fabrik verbrennen.

China, Brasilien und die Türkei schwimmen auf der Welle der Nachindustrialisierung, aus der soziale Ansprüche erwachsen. Man will partizipieren durch Einkommen, soziale Sicherungssysteme und Freiheiten. Seit der Ära des sozialdemokratischen Präsidenten Luiz Inácio »Lula« da Silva regiert in Brasilien das Partizipationsversprechen, das zwangsläufig enttäuscht wird. Bei den Demonstrationen waren die Armen zunächst nicht dabei. Angefangen mit dem Protest hatte die Bewegung für Nulltarif in öffentlichen Verkehrsmitteln. Studenten der Aufsteigerschichten verlangten bessere Karriereaussichten – wie die 68er mit dem Transparent wider den »Muff unter den Talaren« demonstrierten, dass sie die Modernisierung des Landes in die eigenen Hände nehmen wollten. Frauen forderten Gleichberechtigung, soziale Gruppen ein besseres Gesundheitssystem.

Doch dann kamen die, denen die Regierung zu links ist, und warnten vor der »Venezolanisierung«, auch die Evangelikalen waren da, die Marina Silva, die ehemalige Umweltministerin, wie eine Heilige verehren. Sie forderten ein Verbot der Abtreibung und die Zwangsheilung von Homosexuellen. Die Presse nannte die Politik seit »Lula« »verkommener als je zuvor«, die Demonstrationen wurden nationalistischer, das Militär möge doch gegen die Korruption einschreiten. Korruption ist das Modewort der rechten Bewusstseinsdeformation. Hundert Wünsche nach einem besseren Leben werden auf die Forderung herabgesetzt, von einer nicht korrupten Regierung beherrscht zu werden. Der Korruptionsvorwurf richtet sich stets gegen die Demokratie, während das Kapital, das Militär und die Polizei ungeschoren davonkommen. In Bulgarien belagern derzeit konservative Demonstranten das Regierungsgebäude, ohne irgendetwas zu fordern, außer dieses patriotische Nichts.

Ägypten bietet eine Lehrstunde in Sachen »taktisches Demokratieverständnis«. Eine Demokratiebewegung setzte Wahlen durch, in denen sich drei Viertel für die Sharia aussprachen. Als die kam, rief die Bewegung nach dem Militär, damit es die Demokratie wieder beseitige, natürlich nur, um eine neue in Aussicht zu stellen – irgendwann. Wenn irgendjemand Demokratie fordert, sollte man sofort nachfragen: Für was? Demokratie an sich kann sich in einer Mehrheitsdiktatur erschöpfen oder in der Verwaltung der real existierenden kulturellen, betrieblichen, patriarchalen, militärischen und kollektiv-psychotischen Machtverhältnisse. Im Westen hat das taktische Verhältnis Tradition. Das westliche Kapital expandiert für Demokratie (und Menschenrechte) in die Welt, sobald es sich niedergelassen hat, geht es nur noch um Stabilität. Dann arrangiert der Westen sich mit dem islamistischen Feudalismus genauso wie mit der Einparteiendiktatur. Die USA äußerten sich zum Sturz Mursis skeptisch, wohl auch, um ihr demokratisches Image zu pflegen, doch dann erklärten sie, »Stabilität« sei die »Voraussetzung für eine Übertragung der Herrschaft an eine demokratisch gewählte Regierung« und die könne nur vom Militär gesichert werden.

Ägypten gehört wahrlich nicht zu den Aufschwungländern. Es gleicht der Türkei nur insofern, als islamische Parteien demokratisch an die Macht kamen und diese für die Islamisierung der Gesellschaft nutzten. Ansonsten herrschte in der kurzen Mursi-Ära Mangelwirtschaft, während Recep Tayyip Erdoğan sich dank des wirtschaftlichen Aufstiegs seit zehn Jahren im Amt hält, obwohl die Türkei im Unterschied zu Ägypten laizistische, linke und westliche Traditionen hat, die sich in den Aufständen widerspiegelten. Zu den Protesten kamen viele Angestellte aus der IT-Branche, den Banken und anderen Dienstleistungssektoren. Erdoğans Herrschaftssystem wird durch das Nebeneinander von Moderne und Islamisierung erschüttert. Wenn ökonomischer Fortschritt und liberaler Geist genauso voranschreiten wie die verordnete religiöse Regression, muss es krachen. Auf Erdoğan kommt demnächst das Gespenst der Krise zu. Die Wachstumsraten sinken und die große Zahl an Schulabgängern und Akademikern ist nur zu beschäftigen, wenn die Wirtschaft weiterhin um fünf bis sieben Prozent im Jahr wächst.

Der Konflikt »Moderne versus Religion« ist in Ägypten nur eine Randerscheinung, weil es zu wenige Nichtreligiöse gibt. Der Islam konstituiert beide Seiten des Machtkampfes. Als der Ruf des Muezzin auf dem Tahrir-Platz, wo die Liberalen sein sollen, ertönte, verließen die Frauen artig den Platz (sonst wäre es ihnen schlecht ergangen) und die Männer spannten Absperrseile. Ein Salafist der Tamarod-Bewegung sagte, Mursi habe »die reine Lehre vergessen, gestattete Frauen, abends auf der Straße zu sein«. Die als liberal geltenden »Costa-Salafisten«, benannt nach der britischen Kaffeehaus-Kette, erklärten, sie seien offen für Dialoge mit Christen und Säkularen, nur Frauen und Juden dürften nicht dabei sein. Die Tamarod-Bewegung hat nur deshalb so viele Unterschriften gegen Mursi sammeln können, weil sich mit Ausnahme der Muslimbrüder bei ihr alle wohlfühlen konnten: junge Moderne, Salafisten, Nasseristen, Mubarak-Anhänger, Kopten, die Staatsjustiz und die Junta.

Der Text, für den Tamarod Unterschriften sammelte, ist populistischer Schund. Man müsse Mursi das Vertrauen entziehen, weil er nicht für Sicherheit auf den Straßen sorge, die Armee nicht mehr ihren Platz habe, Ägyptens Würde beschädigt sei durch Mursis Bettelei im Ausland und Unterordnung unter die USA. Weder Demokratie noch der Schutz von Frauen gegen die zahlreichen sexuellen Übergriffe wurde erwähnt. Wer den Putsch jenes Militärs bejubelt, das für Massaker verantwortlich ist und bei Massenvergewaltigungen, die als Bestrafung selbstbewusster Frauen gerechtfertigt wurden, Spalier stand, ist auf der Suche nach dem kleineren Übel ganz weit unten angekommen. »Ägypten« ist einmal im Kreis gelaufen und wieder am Ausgangspunkt angekommen, nur, dass der neue starke Mann nicht Mubarak heißt und in Zivil herumläuft, sondern Abel al-Fattah al-Sisi und mit der schwarzen Sonnenbrille »Junta-General« übt. Das Prädikat »Frühling« sollte man im islamisch-arabischen Raum nur dann vergeben, wenn der Aufstand sich für die Gleichberechtigung von Frauen und Mädchen und die Freiheit von Minderheiten einsetzt, ihre Sexualität unbedrängt zu leben, sich nach Lust und Laune zu kleiden und zu musizieren, und überdies religiöse Bindungen auflösen und den Antisemitismus vertreiben will.

Die Abwicklung gleicht dem Militärputsch 1992 in Algerien. Davon abweichend lud al-Sisi die Salafisten als Partner ein, kappte ihretwegen die Verbindung zu Syrien und bestätigte die Sharia als »Hauptquelle der ägyptischen Gesetzgebung«. Nach diesem Angebot an die Salafisten überwies das saudische Königshaus dem Militär zehn Milliarden Dollar Aufbauhilfe. Ägypten befindet sich offenkundig im Sog des Krieges um die re­gionale Hegemonie im Nahen Osten und am Golf, der zwischen den beiden Blöcken »Saudi-Arabien-Katar-Salafisten« und »Iran-Syrien-Hizbollah« im Irak und in Syrien geführt wird und bis in den Libanon, nach Jordanien, Mali, Libyen, in den Sinai und zu den Golanhöhen ausstrahlt.

Die EU muss verrückt geworden sein, den Rückzug Israels vom Golan zu verlangen. Man könnte den Iran und die Hizbollah gleich einladen, in Israel einzumarschieren. Die regionalen Machtblöcke stoßen in die Lücke, die die USA hinterlassen. Die USA ziehen sich langsam zurück, weil sie perspektivisch selbst genug Öl und Gas haben werden und sie ihre strategische Orientierung, wie US-Verteidigungsminister Chuck Hagel im Juni 2013 auf der Sicherheitskonferenz in Singapur bekanntgab, nach Asien ausrichten wollen. Ab 2020 werde man 60 Prozent der Seestreitkräfte in Asien stationiert haben, wo man notfalls in die Dispute eingreifen müsse. Die asiatische Produktion versorgt die USA mit Konsumgütern, und Japan, Südkorea, Taiwan, die Philippinen und Vietnam haben um Militärhilfe gegen das aus den Nähten platzende China gebeten.

Quelle: http://jungle-world.com/artikel/2013/31/48185.html

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