Eine Räumung nach der anderen

Die Demonstrantinnen und Demons­tranten dringen nachts auf dem Pariser Prachtboulevard Champs Elysées vor. Dorthin, wo Protestzüge immer oder fast immer verboten sind und lediglich die Militärparade am 14. Juli ­jeden Jahres genehmigt wird. Und so geht das seit Tagen. Viele Protestierende sind vermummt, haben Schals und Tücher vor das Gesicht gezogen. Einer, den die Blitzlichter der Kameras besonders ins Visier nehmen, trägt eine Totenkopfmaske mit dem Punisher-Emblem. Doch die Behörden schreiten nicht energisch ein. Premierminister Manuel Valls, der vor dem Antritt seines derzeitigen Amts 2014 zwei Jahre lang Innenminister war und sich gern als starker Mann präsentiert, spricht den Demonstranten gar seine »volle Unterstützung« aus.

Suchen sie bald den Strand unter dem Pflaster? Demonstrierende Polizisten in Paris am 20. Oktober

Suchen sie bald den Strand unter dem Pflaster? Demonstrierende Polizisten in Paris am 20. Oktober (Foto: Action Press / Sipa Press / Lewis Joly)

Verkehrte Welt also? Und, so könnte man mit einem feststehenden Ausdruck fragen: »Que fait la police?« Nichts tut sie dagegen, die Polizei. Das allerdings ist keineswegs verwunderlich. Denn seit dem Montag vergangener Woche gilt in Paris und anderen französischen Großstädten allabendlich: Achtung, Achtung, hier demons­triert die Polizei.

Das ist zwar ein Verstoß gegen geltende Berufsregeln, denn französische Polizeibeamte dürfen sich zwar gewerkschaftlich organisieren, unterliegen aber der »devoir de réserve«, der Pflicht zur Zurückhaltung in politischen und sozialen Belangen. Ihre Protest­bewegung ging vom südlichen Pariser Umland aus, dem Verwaltungsbezirk Essonne. Dort wurden am zweiten Samstag im Oktober an einer Straßenkreuzung in der berüchtigten Hochhaussiedlung La Grande Borne, die an der Grenze der beiden Kommunen Grigny und Viry-Châtillon liegt, vier Beamtinnen und Beamte in einem Streifenwagen angegriffen. An jenem Nachmittag befanden sie sich auf einer Kreuzung, an der eine Überwachungskamera installiert wurde, die den zuvor an der Ecke florierenden Drogenhandel stört. Die etwa 15 vermummten Angreifer setzten Molotow-Cocktails ein. Alle vier Polizisten erlitten Verbrennungen, ein 29jähriger und eine 38jährige wurden schwer verletzt.

Der Vorfall gab den Anlass zu einer Protestbewegung, in der Polizisten – an ihren als zu zahm empfundenen Gewerkschaften vorbei – mal mehr Personal, mal eine bessere Bewaffnung fordern, oft aber auch gegen eine als zu lasch betrachtete Justiz wettern. Dieser wird vorgeworfen, sie spreche Delinquenten frei oder lasse sie auf Bewährung laufen, nachdem man sie unter Mühen und Gefahren festgenommen habe. Unvermeidlich ist offenbar, dass beim Beamtenprotest auch rechte Parolen laut werden. Es stellte sich heraus, dass einer der selbsternannten Wortführer, der 30jährige Rodolphe Schwartz, gar kein Polizist ist. Er verließ die Polizei im Jahr 2014, nachdem er mehrfach bei Offiziersprüfungen durchgefallen war, und arbeitet inzwischen für den privaten Sicherheitsdienst der Supermarktkette Carrefour. Zwischendurch kandidierte er bei Kommunalwahlen für den neofaschistischen Front National (FN). Einer vor anderthalb Wochen publizierten Umfrage zufolge wollen 57 Prozent der Polizisten und Gendarmen bei der nächsten Präsidentschaftswahl für die Vorsitzende der rechtsextremen Partei, Marine Le Pen, stimmen.

Inzwischen fordern auch linke Protestierende in ironischer Form die Freiheit, die sich die Polizei jüngst herausnehmen konnte. »Wir wollen auch auf den Champs Elysées demonstrieren«, wurde am Montagabend aus der Menge von einigen Hundert Demonstranten gerufen, die in Paris gegen die am Morgen begonnene Auflösung des Migrantencamps in der Nähe von Calais (Jungle World 42/06) protestierten. Die Räumung begann planmäßig, Innenminister Bernard Cazeneuve verkündete am Montag: »Alles verläuft ruhig.« Dies dürfte jedoch nicht so bleiben. Denn zunächst werden diejenigen Migranten aus Calais abtransportiert, die sich mehr oder minder freiwillig für eine Unterbringung – die nur für drei Monate garantiert ist – in einer der Aufnahmeeinrichtungen im übrigen Frankreich entschieden haben. Doch »2 000 Migranten weigern sich, aus Calais wegzugehen«, und werden Widerstand leisten, kündigte Christian Salomé von der NGO L’auberge des migrants (Die Herberge für Migranten) am Montag an Ort und Stelle an. Die härtesten Auseinandersetzungen dürften noch bevorstehen.

Um zu kontrollieren, was für Bilder aus Calais verbreitet werden, möchte die Staatsmacht nun nur noch akkreditierte Medien- und NGO-Vertreter in das bisherige Camp lassen, das abgerissen werden soll. Bei den NGOs und ­Initiativen geht es vor allem darum, aus Sicht der Regierung zu radikale Kräfte – wie die »No-border-Gruppen« – auszugrenzen und fernzuhalten. Ins­titutionell ausgerichtete NGOs, die die Zerschlagung des »Dschungels« begleiteten, sind dagegen nicht von der Aussperrung betroffen.

Um die weniger gut angesehenen Gruppen fernzuhalten, greifen die Behörden auch auf das Notstandsgesetz zurück. Die Zufahrtsstraßen und -wege zwischen »Dschungel« und Hafengelände wurden auf der Grundlage der derzeit bestehenden Bestimmungen zum Ausnahmezustand zum »besonderen Gefahrengebiet« erklärt. Dies erlaubt, »widerrechtlich Eindringende« strafrechtlich zu verfolgen und mit Strafen bis zu sechs Monaten Haft zu bedrohen.

Ein gewisser Trost für die protestorientierten Kräfte in Frankreich – nicht jedoch für die betroffenen Migranten – liegt darin, dass die ebenfalls vorgesehene Räumung des geplanten Flughafengeländes von Notre-Dame-des-Landes in der Nähe von Nantes vorläufig zurückgestellt werden muss, weil der Abriss des Camps in Calais derart viele Polizisten bindet. In Notre-Dame-des-Landes protestieren zahlreiche Menschen gegen ein umweltzerstörendes und weithin als unsinnig betrachtetes Großprojekt – selbst die rechtssozialdemokratische Umweltministerin Ségolène Royal bezeichnete es noch Anfang dieser Woche als »unhaltbar«. Am zweiten Oktoberwochenende demonstrierten 40 000 Menschen dagegen. In der darauf folgenden Woche hätte die Räumung des als ZAD (zone à défendre, zu verteidigende Zone) bekannt gewordenen Hüttendorfs beginnen sollen, das seit etwa drei Jahren ständig bewohnt ist. Dafür hätten bis zu 10 000 Polizisten und Gendarmen anrücken müssen. Ein Rundschreiben von Justizminister Jean-Jacques Urvoas vom September sah zudem die Einrichtung von Sondergerichten vor, die in Eilverfahren über Straftäter urteilen sollten. Doch zwei Großeinsätze gleichzeitig kann der französische Staat derzeit nicht bewältigen, während die Polizei die Überlastung beklagt und der Objektschutz wegen der Attentatsgefahr viele Kräfte bindet.

Premierminister Manuel Valls, der dem rechten Flügel der französischen Sozialdemokratie angehört und ihr Präsidentschaftskandidat werden könnte, falls der Amtsinhaber François Hollande aus seiner politischen Schwächephase nicht herauskommt, sucht derzeit dringend einen Autoritätsbeweis. Er wollte ihn sich in Notre-Dame-des-Landes verschaffen. Doch darauf wird er noch warten müssen. Vielleicht kommt es an diesem Ort auch gar nicht dazu. Die EU hat einige Untersuchungen zu Umweltfolgen des Flug­hafenprojekts beanstandet, die neu erstellt werden müssen.

Quelle: http://jungle-world.com/artikel/2016/43/55067.html

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