Debatten über die richtige Strategie gegen den Rechtsextremismus drehen sich meistens um die AfD. Dabei ist die Partei selbst nur Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung, die schon in den frühen Neunzigern begann.
Die gute Nachricht: Nie war es einfacher als heute, linksradikal zu sein oder wenigstens dafür zu gelten. Die schlechte Nachricht: Wenn Antifaschismus per se mit Linksradikalismus gleichgesetzt wird, sind Pluralismus und Menschenrechte offensichtlich extrem bedroht. Man denke an Ungarn oder die USA. In Deutschland immerhin wurde ein Antifa-Verbotsantrag der AfD im Bundestag gerade abgelehnt. Dabei erfreut sich die Idee, Organisationen, die sich an Antifa-Demonstrationen beteiligen, die Fördergelder zu streichen, auch in der Union einiger Beliebtheit.

Wichtiger ist den Konservativen indes ihre »Brandmauer« gegen die AfD. Obschon längst vielfach untertunnelt und in Stadt- oder Kreisparlamenten insbesondere Ostdeutschlands gar nicht durchsetzbar, befürworten einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa zufolge 64 Prozent der Unionsanhänger diesen parteipolitischen Schutzwall. Die Gesamtzustimmung zur »Brandmauer« unter allen Befragten liegt allerdings nur bei 48 Prozent, und für ein Verbot der AfD votieren in einer Umfrage des Instituts Allensbach, gerade mal 27 Prozent.
Was für die Grünen die Revolte 1967/1968 war, waren für die AfD die in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen kulminierenden »Baseballschlägerjahre«.
Sind solche Werte als wachsende Zustimmung für eine Regierungsbeteiligung der AfD zu interpretieren, teils vielleicht verbunden mit der Vorstellung, dass die sich so »entzaubern« ließe? Oder denkt die Mehrheit der Befragten nur, dass es für ein Verbot längst zu spät ist und die »Brandmauer« ohnehin fallen wird?
Schließlich konnte die AfD zuletzt in drei ostdeutschen Bundesländern nur noch mittels Minderheitsregierung (Sachsen) oder Koalitionen mit dem BSW (Thüringen und Brandenburg) von der Regierungsmacht ferngehalten werden. Und auch in den verbliebenen Ostländern Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, wo im kommenden Jahr gewählt wird, steht die Partei in Umfragen bei fast 40 Prozent.
Mag sein, dass viele Westdeutsche die AfD weiterhin hauptsächlich für ein ostdeutsches Problem halten, trotz bundesweiter Umfragewerte um die 26 Prozent. Sicher ist hingegen, dass eine Mehrzahl von Politikern und Journalisten fatalerweise noch immer nicht begreift, dass die Auseinandersetzung mit der Partei als solcher zu kurz greift. Denn ihr Erfolg ist nur ein Symptom tieferer gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Sie profitiert von diesen, verursacht hat sie sie nicht. Dafür ist sie schlichtweg zu jung.
Als die AfD vor gerade mal zwölf Jahren gegründet wurde, markierte das nicht den Beginn eines antipluralistischen und antiliberalen Trends. Die AfD bot der Vielzahl diffuser rassistischer, misogyner, völkischer, verschwörungstheoretischer und sonst wie antiaufklärerischer Ressentiments, die sich abseits der etablierten Medienöffentlichkeit längst verfestigt hatten, nur eine politische Plattform. Nicht das Angebot schuf die Nachfrage, sondern umgekehrt. Beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Parteigenese, wie ein Vergleich mit der Geschichte der Grünen zeigt.
Eruptives Aufbegehren
In beiden Fällen stand am Anfang ein eruptives Aufbegehren. Für die Grünen war das die sogenannte Studentenrevolte 1967/1968, für die AfD die »Baseballschlägerjahre«, deren früher Höhepunkt die Pogrome von Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992 waren. Hier wie dort wurde zwar nicht der Staat zu Fall gebracht, aber konkrete politische Siege gab es doch: Im Falle der Achtundsechziger die Reformen der sozialliberalen Koalition unter dem Motto von Willy Brandts (SPD) Kanzlerschaft »Mehr Demokratie wagen« ab 1969, bei den Zweiundneunzigern die (Selbst-)Evakuierung vieler der missliebigen »Ausländer« von Ost- nach Westdeutschland nach den Pogromen und die Beschneidung des Asylrechts 1993.
Von diesen frühen Erfolgen beschwingt traten die einen wie die anderen anschließend einen »Marsch durch die Institutionen« an, nur dass die Zweiundneunziger den nicht lautstark proklamierten. Sie wurden Lehrer und Erzieher, Juristen, Verwaltungsbeamte, Journalisten oder erfolgreiche Geschäftsleute, gründeten Familien und übernahmen wichtige Ehrenämter. Kurz: Sie begannen, die gesellschaftlichen Verhältnisse nach dem Graswurzelprinzip von unten zu ändern.
Während aber die Achtundsechziger 1980 aus eigener Initiative eine Partei gründeten, bekamen die vorwiegend ostdeutschen Zweiundneunziger ihre 2013 geschenkt, und zwar von westdeutschen Reaktionären, die aus der Union und FDP stammten. Deren Triebfeder war eine tiefsitzende Abscheu vor dem vergleichsweise liberalen Kurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Angst vor der Erosion nationalstaatlicher Souveränität im Zuge von EU-Politik und Globalisierung.
Ob Pegida-Marschierer, putinistische Friedens-Querfrontler, Coronaleugner oder Impfgegner – all diese Strömungen konnte die AfD integrieren, indem sie ein konformistisches Rebellentum gegen »die da oben« anbot.
Diese Ausrichtung verfing zwar vorerst hauptsächlich im Osten, erwies sich jedoch als anschlussfähig für unterschiedlichste Gruppen. Ob Pegida-Marschierer, putinistische Friedens-Querfrontler, Coronaleugner oder Impfgegner – all diese Strömungen konnte die AfD integrieren, indem sie ein konformistisches Rebellentum gegen »die da oben« anbot. Und als sich mit Alice Weidel eine prominente Vertreterin rechtslibertärer Ideen neben dem völkischen Björn Höcke etablierte, wurde die Partei auch für westdeutsche Eigenheimbesitzer attraktiver.
Die von ihr attackierte »Elite« in Politik und Medien indes hat bis heute nicht verstanden, dass man, um die AfD dauerhaft von den Hebeln der Macht fernzuhalten, nicht nur die Partei bekämpfen, sondern ihre Wähler resozialisieren müsste. Mittel dazu gäbe es oder hätte es zumindest gegeben: zivilgesellschaftliche Maßnahmen in Schulen, Vereinen und Institutionen durch angepasste Lehrpläne sowie dauerhafte und sichere Förderung für Vereine und Verbände, die in die Tiefen der Gesellschaft hineinwirken.
Derlei aber geschah immer nur punktuell, nie langfristig oder ausreichend, weshalb sich die Positionen der Zweiundneunziger immer weiter ausbreiten konnten.
Verzerrter Neutralitätsbegriff
Ein Beispiel dafür ist die aktuelle Debatte über ein angebliches Neutralitätsgebot für Lehrer. Der Soziologe Alexander Leistner beschreibt im jüngst erschienenen Sammelband »Extremwetterlagen« eindrücklich, wie schon in den »Baseballschlägerjahren« viele Menschen in einer »Neutralität« Zuflucht suchten, die sich als eine zwischen rechts und links ausgab, in Wirklichkeit aber eine zwischen rechts und nichtrechts, zwischen Täter und Opfer war, und wie sich daraus eine »Neutralität als Alltagsnorm« entwickelte.
Inzwischen geraten auch Lehrer, die sich offen gegen Rechtsextremismus aussprechen, immer mehr unter Druck, manchmal sogar durch ihre Kollegen oder die Schulleitung. Die AfD befördert das zwar mit eigenen Denunziationsportalen, die als Pranger für Lehrer dienen, die die AfD deutlich kritisieren. Wichtiger aber ist, dass dieser verzerrte Neutralitätsbegriff längst in den Köpfen von Lehrern, Eltern und Schülern festsitzt.
Hinzu kommen all die hochaktiven rechtsextremen Kommunikationsnetzwerke im Internet, deren Aufkommen die Behörden ebenfalls verschlafen haben. Auch hierbei gilt: Das Problem ist nicht, dass die AfD in den sozialen Medien viel präsenter ist als andere Parteien oder dass sie dabei strategisch besonders geschickt vorginge.
Suizidaler Liberalismus
Viel bedeutsamer ist das, was im weiteren Umfeld der Partei passiert: Putinistische und trumpistische Fake-News-Schleudern, rechtspopulistische Krawallportale wie Nius, auf seriös getrimmte Medien wie Tichys Einblick und allerlei bizarre Blogs, Youtube-Shows, Streamer, Podcaster und Telegram-Kanäle liefern ein Dauerfeuer aus Desinformation, Manipulation und Ressentimentbewirtschaftung, das jenseits jeder vernünftigen Debatte so lange lodert, bis eine politische »Brandmauer« kaum mehr möglich sein wird.
Selbst ein Parteiverbot würde daran nichts ändern. Es böte höchstens eine Verschnaufpause, während derer man versuchen könnte, vergangene Fehler zu korrigieren. Nur so ließe sich vielleicht der im brandenburgischen Landtagswahlkampf vielplakatierte Slogan der AfD irgendwann widerlegen: »Dein Nachbar wählt uns auch!«
Stattdessen verschanzt man sich parteipolitisch hinter dieser sogenannten Brandmauer, während man sich zugleich von der AfD die Themen diktieren lässt. Wenn das so weitergeht, wird wohl irgendwann der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Sinne jenes pervertierten Neutralitätsbegriffs mit einer rechtspopulistischen Version der »Lindenstraße« aufwarten. Bedenkt man, wie erfolgreich die Achtundsechziger über 50 Jahre lang die Gesellschaft prägten, obgleich ihre Partei (im Gegensatz zur AfD) nie Chancen hatte, das Kanzleramt zu erobern, könnte man das als suizidalen Liberalismus beschreiben.
Quelle: https://jungle.world/artikel/2025/46/rassismus-neunziger-die-afd-als-symptom