Das Grauen von Genua

Juli 2001: Straßenschlachten beim G-8-Gipfel in Italien. Schläge, Tritte, Reizgas. Aber für das, was die Verhafteten dann erwartete, gibt es nur ein Wort – Folter

Der Gipfel der G-8-Staaten in Genua im Jahr 2001 wird für immer mit einem Wort verbunden werden: Gewalt. Gewalt auf den Straßen – und Gewalt im Gefängnis in Bolzaneto. Der Prozess um die Ereignisse dort ist noch nicht zu Ende – der Abschluss ist für den Frühsommer geplant. Das Urteil wird den Angeklagten persönliche Verantwortung und Strafen zumessen. Die Tatsachen aber, die während der Verhandlung rekonstruiert wurden, sind nicht mehr in Zweifel zu ziehen. Sie wurden gesichert, dokumentiert und bewiesen. Und sie zeigen, dass Italiens Demokratie drei Tage lang jene feine, aber unzerstörbare Grenzlinie überschritten hat, die Menschenwürde und Menschenrechte schützt.

Es gab an diesem Tag auch einen „Guten“ unter den Polizisten. Viele Gefangene erinnern sich an ihn. „Ein ganz junger“, um die zwanzig, ein Wehrdienstleistender vielleicht. Andere haben ihn etwas älter in Erinnerung. In den drei Tagen, als die Menschenrechte außer Kraft waren, gab es höchstens zwei mitfühlende Menschen in Bolzaneto, unter zig Polizisten, Carabinieri, Wächtern, Justizangestellten, Generälen, Offizieren, stellvertretenden Polizeipräsidenten, Ärzten und Krankenpflegern der Gefängnisverwaltung. So gut er konnte, zeigte der „gute“ Carabiniere den Häftlingen, wie sie die Arme zu senken, das Gesicht von der Wand zu drehen, sich zu setzen hätten. Er gab die Wasserflasche herum, es gab nur eine. Doch solche Pausen dauerten nur ein paar Minuten. Der erstbeste Offizier, der vorbeikam, brüllte den ungeschickt gutherzigen Carabiniere an, und die Folter begann von neuem.

Folter. Das Wort ist weder unangemessener noch überspannt. Zwei Verhandlungsjahre mit 45 Angeklagten in Genua haben dokumentiert, was während des G-8-Gipfels zwischen Freitag, dem 20. und Sonntag, dem 22. Juli 2001 in Bolzaneto in der Kaserne „Nino Bixio“ der mobilen Abteilung der Staatspolizei mit 55 „Verhafteten“ und 252 „Festgenommenen“ geschehen ist, mit Männern und Frauen. Alten und Jungen, mit Jugendlichen und einem Minderjährigen. Menschen von überall her und aus allen Berufen: Spanier, Griechen, Franzosen, Deutsche, Schweizer, Engländer, Neuseeländer, drei US-Amerikaner, ein Litauer. Die meisten Studenten, und Arbeitslose, Angestellte, Arbeiter, aber auch etliche Freiberufler. Die Staatsanwälte Patrizia Petruzziello und Vittorio Ranieri Miniati schreiben in ihrer Anklageschrift, dass „nur Vorsicht“ sie abhalte, von Folter zu sprechen. Man sei sicher „der Folter sehr nahe gekommen“. Aber die Anklage war hier machtlos, Sie musste in Straftatbestände und Strafen übersetzen, was sie von den Aussagen der 326 Zeugen im Gerichtssaal dokumentiert hat. In Italien gibt es Folter nicht als Straftat. Das Parlament fand nie Zeit – und sah sich zwanzig Jahre auch nicht in der Pflicht dazu – das Strafgesetzbuch an international gültiges Menschenrecht anzupassen, an die UN-Konvention gegen Folter, die Italien 1988 ratifiziert hat.

Die Kaserne von Bolzaneto ist heute nicht mehr die, die sie seinerzeit war. Mit großer Umsicht hat man die „Orte der Schande“ unsichtbar gemacht, sogar die Räume verändert und die Türen Richtung Stadt geöffnet, für Behörden, Bürger, Militär, Kirche. Sie sollte ein „Erinnerungszentrum für die Opfer die Übergriffe werden. Es gibt jetzt einen Spielplatz in jenem Innenhof, wo in zwei Reihen aufgestellte „Wärter“ neu ankommende Häftlinge bespuckten, beleidigten, ihnen auf die Köpfe schlugen, sie traten und mit Sprechchören empfingen wie „Wer ist der Staat? Die Polizei! Wer ist der Chef: Mussolini!“ oder „Willkommen in Auschwitz“. Wo das berüchtigte „Einschreibebüro“ war, steht jetzt eine Kapelle und in den Gängen, wo 2001 „Tod den Juden“ gebrüllt wurde, gibt es jetzt eine Bibliothek, die den Namen von Giovanni Palatucci trägt, dem letzten italienischen Polizeipräsidenten von Fiume (heute Rijeka in Kroatien, die Red.), der im KZ Dachau umgebracht wurde, weil er 5000 Juden vor dem Tod bewahrt hatte.

An diesem 20. Juli sah der Ort anders aus und die Luft war bleischwer. Hinter dem Kasernentor und dem weiten Innenhof werden die Gefangenen zu dem Fabrikkomplex getrieben, in dem die Turnhalle liegt. Es gibt drei oder vier Stufen und einen zentralen Korridor von fünfzig Metern Länge. Hier liegt die Olimpo-Garage. Vom Flur gehen drei Zimmer ab, eines links, zwei rechts, ein einziges Bad. Hier wird man identifiziert und fotografiert. Alle werden gezwungen ein Formular zu unterschreiben, dass man die Familie nicht habe anrufen oder einen Anwalt – bei Ausländern das Konsulat – kontaktieren wollen. Ausländern wird das Formular nicht übersetzt. Einer Frau, die protestiert und nicht unterschreiben will, zeigt man das Foto ihrer Kinder mit den Worten: „Die willst du also so bald nicht wiedersehen?“ Einer anderen, die sich auf ihre Rechte beruft, schneiden sie Büschel aus den Haaren. Auch H. T. verlangt einen Anwalt. Sie drohen, ihm „die Kehle durchzuschneiden“. M. D. steht vor einem Polizisten aus ihrer Stadt. Er spricht sie im Dialekt an, fragt, wo sie wohnt und sagt: „Weißt du was, ich werde bei dir vorbeikommen.“ Dann werden sie auf die Krankenstation geführt wo die Ärzte klären sollen, wer behandelt werden muss. In einer Ecke wird man erst einmal durchsucht. Was man bei sich hat, wird abgerissen und auf den Boden geworfen danach muss man sich ausziehen. Die Nackten müssen sich bücken „um Gegenstände in den Körperöffnungen festzustellen“.

Noch kann niemand sagen, wie viele Gefangene es in diesen drei Tagen gab – 55 „Verhaftete“ und 252 „Festgenommene“ sind ungefähre Zahlen. Die „Zeiten des Aufenthalts im Objekt“ sind besser bekannt: Durchschnittlich zwölf Stunden für die, die das Glück hatten, am Freitag eingeliefert zu werden. Ab Samstag dauert die durchschnittliche Haftzeit – vor dem Transport in die Gefängnisse von Alessandria, Pavia, Vercelli, Voghera – 20 Stunden. 33 Stunden werden es am Sonntag, als nachts zwischen 1.30 und 3 Uhr die Leute aus der Diaz-Schule ankommen. Sie werden am Eingang zum Hof mit rotem oder grünem Filzstift auf der Wange gekennzeichnet.

Im Prozess hat sich herausgestellt, dass die Justizvollzugsbeamten einen Slang für die „schikanöse Körperhaltungen beim Warten“ haben: Der „Schwan“ – breitbeiniges Stehen mit erhobenen Armen, das Gesicht zur Wand – wird an diesen heißen Tagen im Hof stundenlang erzwungen, während man auf die „Aufnahme“ wartet. Wenn die Stufen im Vorzimmer genommen sind, heißt es in den Zellen und der Sporthalle weiter warten, wenn möglich in schlimmeren Varianten dieser Stellung. Auf Knien in Richtung Wand, die Hände hinter dem Rücken mit Schnüren gefesselt oder in der „Ballerina“-Position, auf Zehenspitzen. In den Zellen werden alle geschlagen, mit Schlagstöcken auf die Seite, es setzt Schläge auf den Kopf, der Kopf wird gegen die Wand geschlagen. Alle werden gedemütigt, die Frauen mit einem „Bis heute Abend ficken wir euch alle“, die Männer mit „Bist du schwul oder Kommunist?“ Andere werden gezwungen, wie Hunde zu kläffen, wie Esel zu schreien oder „Hoch der Duce“ oder „Es lebe die Gefängnispolizei“ zu rufen. Einige werden mit nassen Lappen geschlagen, einige auf dem Rücken liegend, die gespreizten Beine nach oben, mit einer Salami auf die Genitalien. G. werden dabei die Hoden verletzt. Einige werden mit Reizgas besprüht. Einigen wird die Milz zerquetscht

I. M. T. wird in der Diaz-Schule festgenommen. Man setzt ihm ein Barett mit einer Sichel und einem Penis anstelle des Hammers auf. Sobald er versucht, es abzunehmen, schlagen sie ihn. B. B.s Kopf schlagen sie gegen das Fenstergitter, ziehen ihn aus, befehlen ihm, zehn Kniebeugen zu machen, während sie weiter auf ihn einprügeln. S. D. werden die Hoden gequetscht, er wird auf die Füße geschlagen. A. F. wird gegen eine Wand gedrückt und angeschrien: „Du Sau, du musst allen einen blasen.“ S. P wird in einen anderen, leeren Raum gebracht und muss sich dort ausziehen, in Fötusposition legen und aus dieser Position heraus dreißig Sprünge machen, während zwei Polizeibeamte ihn schlagen. J. H. wird im Flur verprügelt, man stellt ihm ein Bein und bespuckt ihn. Bei der Durchsuchung muss er sich nackt ausziehen und „seinen Penis heben, um ihn den Beamten am Schreibtisch zu zeigen“. J. S. fügt man per Feuerzeug Brandwunden zu.

Der Gang durch den Flur ist ein Spießrutenlaufen. Dort steht eine Doppelreihe grau-grün und blau Uniformierter, die prügeln und drohen. Im Krankentrakt ist es nicht besser. Dort finden die doppelten Leibesvisitationen statt, eine der Staatspolizei, die andere vom Gefängnispersonal. Die Häftlinge sind entkleidet. Die Frauen stehen lange nackt vor fünf, sechs Polizeibeamten. Vor ihnen, die höhnisch lachen, findet alle Aktionen statt. Sie sind demütigend. Die Staatsanwälte: „Piercings wurden brutal entfernt. Eine menstruierende junge Frau muss ihr Intimpiercing vor vier, fünf Personen entfernen.“ Während der Untersuchung hagelt es beleidigende Bemerkungen, Gelächter und Hohn. P. B., einem Arbeiter aus Brescia, droht man, ihn zu vergewaltigen. Während der Untersuchung findet man ein Präservativ bei ihm. „Und was machst du damit, die Kommunisten sind doch schließlich alle schwul?“ Eine Beamtin nähert sich und sagt: „Aber er ist hübsch, mit dem würde ich es machen.“ Die Frauen bleiben auf der Krankenstation länger als nötig nackt und werden gezwungen, sich drei- oder viermal um sich selbst zu drehen.

Am schlimmsten ist es in der einzigen Toilette. Sie hat einen Stehabort und wird zum Ort von Folter und Terror. Die Tür steht offen und die Häftlinge müssen sich vor ihrem Begleiter erleichtern. Einige der Frauen brauchen Binden. Als Antwort bekommen sie zerknülltes Zeitungspapier zugeworfen. M., eine Frau fortgeschrittenen Alters, zieht sich ein T-Shirt aus und „behilft sich so“. E. P. bekommt im Flur während des kurzen Gangs von der Zelle zur Toilette Hiebe, nachdem man sie gefragt hat, ob sie schwanger sei. Auf der Toilette wird sie beleidigt („Sau“, „Nutte“) sie drücken ihr den Kopf in die Toilette und sagen: „Was für einen schönen Arsch du hast“ und „Gefällt dir der Schlagstock?“ Wer im Saal ist, sieht die, die von der Toilette kommen. Alle weinen, einige haben Verletzungen, die sie zuvor nicht hatten. Folglich wollen viele nicht mehr fragen, ob sie zur Toilette dürfen. Sie machen sich in die Kleider, dort, in den Zellen, in der Sporthalle. Daraufhin werden sie im Krankenzimmer geschlagen, weil sie „stinken“, die Ärzte protestieren nicht.

Auch der leitende Arzt am Freitag wird „gestoßen und gedrängt“. Damit man ihn erkennen kann, erscheint er am nächsten Tag in Tarnhose und Shirt der Strafvollzugsbeamten, im Gürtel eine Pistole, die Füße in Springerstiefeln, dazu schwarze Lederhandschuhe. So macht er seine Arbeit. Die Gefangenen entlässt er mit den Worten „Der ist bereit für den Käfig“. Bei der Arbeit trägt er, wie die anderen auch, nie den weißen Kittel und er ist es, der eine persönliche Sammlung von Trophäen aus Sachen anlegt, die den Gefangenen abgenommen wurden: Ringe, Ohrringe, Ketten und „besondere Kleidungsstücke“. Er ist auch der Arzt, der L. K. behandeln soll. L. K. ist mit Gas besprüht worden, er spuckt Blut und wird ohnmächtig. Er wacht auf einer Liege auf, im Gesicht eine Sauerstoffmaske. Jemand zieht eine Spritze auf. Er fragt: „Was ist das?“ Der Arzt antwortet: „Vertraust du mir nicht? Dann stirb halt in der Zelle.“ G. A. lässt im San Martino gerade die Wunden behandeln, die er sich in der Via Tolemaide zugezogen hat, da wird er nach Bolzaneto gebracht. Als er ankommt, schlagen sie ihn gegen eine kleine Mauer. Die Beamten scheinen stark unter Adrenalin zu stehen. Sie sagen, ein Carabiniere sei tot. Ein Polizist nimmt seine Hand, drückt die Finger mit zwei Händen auseinander und zieht. Er zieht von beiden Seiten und reißt die Hand „bis zum Knochen“ auf. G. A. wird ohnmächtig. Auf der Krankenstation wacht er auf. Ein Arzt näht seine Hand ohne Betäubung. G. A. hat heftige Schmerzen. Er bittet um „etwas“. Sie geben ihm einen Lappen zum Draufbeißen. Der Arzt sagt ihm, er solle nicht schreien.

Nach Ansicht der Staatsanwälte „waren die Ärzte sich bewusst, was passierte, sie waren in der Lage, die Schwere der Ereignisse zu beurteilen, und sind nicht eingeschritten, obwohl sie dies hätten tun können. Sie haben es zugelassen, dass sich diese unmenschliche und herabwürdigende Behandlung auf der Krankenstation fortsetzte“.

Quelle: http://www.tagesspiegel.de/politik/das-grauen-von-genua/1196376.html

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