Von der Start-up-Nation Israel zum autoritären Staat?

Das Vorgehen von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ähnelt dem Viktor Orbáns in Ungarn. Viele regierungskritische Demonstranten befürchten, die angestrebte Justizreform sei nur der Auftakt eines autoritären Staatsumbaus.

»Bibi, wir sind hier nicht in Ungarn!« oder »Yariv Levin, wir sind hier nicht in Polen« hört man derzeit auf den Demonstrationen gegen die umstrittene Justizreform in Israel. Die Demonstrierenden meinen damit den Ministerpräsidenten Benjamin »Bibi« Netan­yahu beziehungsweise den Justiz­minister, beide von der Likud-Partei. Solche Parolen vermischen sich mit Sprechchören wie »Demokratie, Demokratie!« oder »Israel ist keine Diktatur!«

Schilder zeigen Netanyahus Konterfei neben dem Viktor Orbáns und ­Recep Tayyip Erdoğans, auf einem anderen Schild ist zu lesen: »Wir wollen nicht wie die Türkei enden«. Immer wieder ziehen Demonstranten bei den Plänen der israelischen Regierung Parallelen zu den Entwicklungen in Polen und Ungarn, wo rechtspopulistische Regierungen die Gewaltenteilung außer Kraft zu setzen suchen, oder sogar zur Türkei und Russland, wo Oppositionelle und Regierungskritiker verfolgt werden und die Regierung die Presse einschüchtert und weitestgehend kontrolliert.

Wie um solche Vergleiche zu bestätigen, sagte der stellvertretende polnische Außenminister Paweł Jabłoński am Montag vergangener Woche einem polnischen Radiosender, israelische Beamte hätten sich bei der Planung der Justizreformen mit ihren polnischen Amtskollegen beraten. Er nährte damit die Befürchtungen der Gegner der von Netanyahu angeführten Koalition, die rechtsextreme und ultrareligiöse Parteien umfasst, die Justizreform sei nur der Auftakt eines umfassenden Umbaus des politischen Systems, wie es rechte Populisten in Polen, Ungarn oder der Türkei vorgemacht haben.

Kritiker befürchten, dass mit der weitgehenden Abschaffung der Eingriffsmöglichkeiten des Obersten Gerichtshofs der Weg frei wäre für die Etablierung eines autoritären Systems.

In diesen Staaten haben illiberale Regierungen durch Reformen eine sukzessive Aufweichung der Gewaltenteilung bis zu ihrer Aufhebung betrieben. Das Justizsystem war hierbei häufig das erste Ziel, um dann die Medien einzuschüchtern, gegen Nichtregierungsorganisationen vorzugehen und die Opposition zu behindern.

Solche Vorhaben kommen meist sehr technokratisch daher, um möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Auch in Israel bangen die Gegner der Koalition um die Unabhängigkeit der Justiz, die nach Aussagen politischer Beobachter im politischen System Israels die einzige Instanz ist, welche die Gewaltent­eilung effektiv sicherstellt. Sie befürchten, dass mit der weitgehenden Abschaffung der Eingriffsmöglichkeiten des Obersten Gerichtshofs der Weg frei wäre für die Etablierung eines autoritären Systems.

Als Netanyahu am 27. März bekanntgab, die Reformen vorerst auszusetzen, sandte er zugleich eine eindeutige Botschaft an seine Unterstützer. Er bezeichnete den eingeschlagenen Weg als gerecht; er und die Regierungskoalition würden nicht zulassen, dass irgendjemand »dem Volk seine freie Wahl raubt«. Man werde den Weg, für den man gewählt worden sei, nicht aufgeben.

Den Topos der »gestohlenen Wahl«, den Donald Trump in den USA auf­gebracht hat, griffen die Demonstranten, die am Freitag voriger Woche dem Aufruf zum »Marsch für die Freiheit« der rechten Organisation Im Tirtzu folgten, auf ihren Schildern auf. In Tel Aviv waren 30 000 Reformbefürworter auf der Straße, mehrere Medien berichteten davon, dass die Reformbefürworter eine Autobahn blockierten, Journalisten und Unbeteiligte angriffen und mit den Ordnungskräften aneinandergerieten.

Die israelische Tageszeitung Haaretz ordnete einen Angriff auf einen palästinensischen Taxifahrer der ultrarechten Hooligan-Gruppe La Familia zu, die beim bei Mizrahim und sephardischen Juden beliebten Erstligaclub Beitar Jerusalem ihr Unwesen treibt. Die Online-Zeitung Times of Israel berichtete von rassistischen Sprüchen gegen Araber, die von Demonstranten gerufen wurden.

Statt einer Kommission aus Richtern, Politikern und Anwälten soll in Zukunft die Regierung über die Berufung von Richtern entscheiden.

Netanyahu hatte in seiner Rede vom 27. März zwar auch Dialogbereitschaft mit den gegen ihn Demonstrierenden signalisiert – er sei sich der »enormen Spannung«, die sich zwischen »zwei Teilen der Nation« aufbaue, bewusst, sagte er –, doch sprach er ebenso von einer »extremistischen Minderheit«, die Israels Gesellschaft spalten wolle und an den Grundfesten der Nation rüttele, indem sie zur Verweigerung des Reservedienstes in der Armee aufrufe für den Fall, dass die sogenannte Justizreform beschlossen werde. Kein Wunder, dass die so titulierte »extremistische Minderheit« das Dialogangebot Netanyahus mehr als skeptisch aufnahm.

Am Dienstag voriger Woche wurde bekannt, dass die Regierung noch vor Netanyahus Ankündigung, die Reform auszusetzen, einen Teil der Gesamtreform, das umstrittene Gesetz zur Auswahl von Richtern, zur Schlussabstimmung in der Knesset vorgelegt hatte; offiziell aus »technischen Gründen«. Statt einer Kommission aus Richtern, Politikern und Anwälten soll in Zukunft die Regierung über die Berufung von Richtern entscheiden. Die Einreichung des Gesetzentwurfs beim Sekretär der Knesset ermöglicht es der Koalition, die Schlussabstimmung jederzeit innerhalb einer Frist von 24 Stunden einzuberufen.

Wenigstens dürfte es Netanyahu in Zukunft immer schwerer fallen, halbwegs glaubhaft zu behaupten, er repräsentiere die Mehrheit der Bevölkerung: Umfragen zufolge käme das Regierungslager, bestehend aus dem Likud sowie den rechtsextremen und orthodoxen Parteien, das derzeit über eine knappe Parlamentsmehrheit verfügt, bei Neuwahlen auf nur noch 53 oder 54 von insgesamt 120 Sitzen.

Quelle: https://jungle.world/artikel/2023/14/von-der-start-nation-israel-zum-autoritaeren-staat

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