»Selbst Schwerverletzte wollen keinen Rettungsdienst«

Polen und Litauen: Brutale Gewalt gegen Flüchtlinge an Grenze zu Belarus. Schweizer Gruppe hilft Opfern. Ein Gespräch mit Luca Ebner

Eine Gruppe aus der Schweiz unterstützt seit Mitte November Menschen auf der Flucht, zunächst an der Grenze von Belarus zu Polen, später dann auch an der zu Litauen. Geplant ist, das bis diesen Montag fortzusetzen. Was haben Sie erlebt?

Der Grenzzaun zwischen Polen und Belarus, eine 5,5 Meter hohe und 186 Kilometer lange, mit NATO-Draht bestückte Stahlkonstruktion, soll Menschen davon abhalten, in die EU zu gelangen. Jüngst wurden elektronische Bewegungsmelder und Wärmebildkameras installiert. Militär und freiwillige Armee-Einheiten patrouillieren in Polen. Doch all das stellt für die Flüchtenden lediglich eine Erschwernis dar, kein Hindernis. Sie nehmen dann gefährlichere Wege in Kauf, durchwaten im Winter Flüsse und Sümpfe. Auf dieser Route reisen meist Menschen aus ehemals kolonialisierten Ländern in Zentral- und Südasien oder auch Afrika. Viele hatten sich zuvor in Russland aufgehalten. Fluchtgründe sind Krieg, Vertreibung, politische Verfolgung, Verarmung und Hunger aufgrund kolonialer Ausbeutung, Folgen des Klimawandels oder die Hoffnung auf ein besseres Leben.

Es geht in der Grenzregion sehr repressiv zu.

Immer wieder wird berichtet, dass Militär und Grenzbeamte Menschen in Belarus gewaltsam zwingen, die Grenze nach Polen zu überqueren. Werden sie dort entdeckt, droht ihnen der »Push« zurück. Selbst Schwerverletzte bitten darum, nicht den Rettungsdienst zu rufen, da sein Einsatz auch Polizei oder Grenzwachen alarmiert. Die polnische Grenztruppe »Straz Graniczna« kann eigenständig entscheiden, wer das Recht hat, einen Asylantrag zu stellen. Wer es schafft, landet oft in geschlossenen, überfüllten Lagern, sogenannten »Detention Centers«. Polen ist daher selten das Ziel, viele reisen zum Beispiel nach Deutschland und Frankreich weiter.

Gehen Polen und Litauen an ihren Grenzen zu Belarus unterschiedlich vor?

Menschen in den polnischen Wäldern werden von staatlichen Beamten geschlagen, getreten, vergewaltigt und anderen körperlichen Gewalttaten ausgesetzt. Telefone, Geld und Klamotten werden ihnen geraubt und zerstört. Unbemerkt über Felder und Waldwege zu laufen, ist fast unmöglich. Welche offiziellen Befugnisse das Militär in der Grenzregion hat, wird nicht kommuniziert. In Litauen hatten wir bisher keine Begegnung mit Behörden, doch auch hier kommt es täglich zu »Pushbacks« durch Grenzwache und Polizei. Nach Aussage von Betroffenen ist das Vorgehen der Grenzbeamten an der polnisch–belarussischen und an der litauisch–belarussischen Grenze ähnlich.

Kann der Grenzübergang in die EU überhaupt gelingen?

Werden Menschen in den Wäldern oder auf der Weiterreise in Richtung Deutschland aufgegriffen, werden sie in der Regel an die belarussische Grenze »zurückgeführt«. Oft treffen wir innerhalb kurzer Zeit mehrmals auf dieselben Menschen, da sie wenig später wieder in den polnischen Wäldern ankommen. Manche haben das mehr als zehn Mal hinter sich. Viele sind verletzt. Das Spektrum der Verletzungen reicht von Prellungen, Platzwunden und Knochenbrüchen bis hin zu Unterkühlungen und Erfrierungen sowie lebensbedrohlichen Infektionen.

Sie möchten nicht mit Klarnamen benannt sein – warum?

Der Umgang mit Aktivisten und Unterstützern ist repressiv. Ermittlungsverfahren zum Vorwurf der Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt laufen. Die Polizei schikaniert während der Verkehrskontrollen im Grenzgebiet. Genossen berichten von gewalttätigen Übergriffen. Sie wurden aus Autos gezerrt, mussten sich zur Personenkontrolle auf die Straße legen, wurden bedroht. Juristisch stellen weder Hilfsmaßnahmen im Wald, das Beherbergen von illegalisierten Menschen, noch deren Mitnahme in einem Fahrzeug einen Straftatbestand dar. Im Gegenteil: Es ist Pflicht, Menschen in Notsituationen zu helfen.

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/440675.eu-abschottungspolitik-selbst-schwerverletzte-wollen-keinen-rettungsdienst.html

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Platzkundgebung Rojava Verteidigen in Luzern am 16.12.22

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Demo Rojava verteidigen

TAG X IST JETZT
Der faschistische Staat Türkei greift die Frauenrevolution in Rojava und weitere Teile Kurdistans an.

Kommt deshalb alle zur Demo!

Biji Berxwedana Rojava!

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Bomben auf Kobani

Tote nach schweren türkischen Luftangriffen auf Nordsyrien und Nordirak. USA gaben offenbar grünes Licht Von Nick Brauns

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Hannes P. Albert/dpa Spontane Demonstration gegen den türkischen Angriffskrieg am Sonntag in Frankfurt am Main

Die türkische Luftwaffe hat in der Nacht zum Sonntag die seit Jahren schwersten Luftangriffe auf die Selbstverwaltungsregion in Nord- und Ostsyrien geflogen. Bombardiert wurden bei den Attacken mit Dutzenden Kampfflugzeugen und Drohnen unter anderem die Städte Kobani und Derik sowie die Schahba-Region nördlich von Aleppo. Auch auf das Asos- sowie das Kandilgebirge im Nordirak, wo sich das Hauptquartier der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) befindet, erfolgten Luftangriffe.

Nach Angaben des Pressesprechers der Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDK), Farhad Shami, vom Sonntag mittag wurden in Syrien 27 Menschen getötet, darunter elf Zivilisten, ein SDK-Kämpfer sowie 15 syrische Regierungssoldaten. Bei Derik, der nahe der Grenze zum Irak gelegenen Partnerstadt des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, kam es zu einem Massaker. Dabei starben neun Zivilisten. Dorfbewohner hatten die Insassen eines zuvor beschossenen Fahrzeugs bergen wollen, als ein weiterer Luftangriff auf den Ort erfolgte. Zerstört wurde zudem zivile Infrastruktur, so das Kraftwerk von Derik, ein Krankenhaus in Kobani sowie Getreidesilos.

Es sei »Abrechnungszeit« hatte das türkische Verteidigungsministerium über Twitter die Angriffe mit der »Neutralisierung« von »terroristischen Elementen« begründet. Es handele sich um Vergeltung für einen Bombenanschlag in Istanbul am vergangenen Sonntag, bei dem sechs Menschen getötet und mehr als 80 verletzt wurden. Während YPG und PKK sich umgehend von dem Anschlag distanziert hatten, wiesen Spuren der mutmaßlichen Attentäterin in Richtung der mit Ankara verbündeten dschihadistischen Söldner in Nordsyrien und eines Politikers der faschistischen Grauen Wölfe.

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Jamie Parks/Rojava Information Center Zerstörtes Umspannwerk im syrischen Dorf Tekil Bekil am Sonntag

»Wir sind sicher, dass die Explosion in Istanbul letzte Woche von der AKP und der MHP inszeniert wurde«, gab Remyize Mihemed, Sprecherin des in der Selbstverwaltungsregion einflußreichen Frauenverbandes Kongra Star, am Sonntag gegenüber jW der islamistisch-faschistischen Regierungsallianz in Ankara die Verantwortung. Die Türkei plane seit langem weitere Teile Nordsyriens zu besetzen, so Mihemed. Angesichts der Wahlen im kommenden Jahr und der tiefen Wirtschaftskrise und der im Nordirak steckengebliebenen Offensive gegen die kurdische Guerilla brauche die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan Erfolge, um wieder Zustimmung zu gewinnen. Mihemed ist sich sicher, »dass es Absprachen zwischen Amerika und der Türkei für diese Angriffe gab«. So hatte das US-Konsulat im nordirakischen Erbil bereits am Freitag seine sich im Land aufhaltenden Bürger vor einem bevorstehenden türkischen Angriff auf Nordsyrien und den Nordirak gewarnt.

Bemerkenswert sei, dass sowohl die USA als auch Russland den jeweils von ihnen kontrollierten Luftraum für die türkische Luftwaffe freigegeben hätten, betonte Servan Roni, ein Internationalist der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), am Sonntag gegenüber jW. Er erklärt sich dies mit der geopolitischen Bedeutung der von beiden Seiten umworbenen Türkei. Bezeichnend sei das Schweigen der Bundesregierung zur Bombardierung von Kobani als weltweit bekanntem Symbol für den Sieg über den »Islamischen Staat«, so der aus Deutschland stammende YPG-Kämpfer.

Am Montag reist Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zu Gesprächen mit ihrem Amtskollegen Süleyman Soylu über »Terrorismusbekämpfung« und Migrationsabwehr nach Ankara

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/439112.erdogan-im-wahlkampfmodus-bomben-auf-kobani.html

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Liebsch de fuessball – Hassisch d’FIFA

Am 19. November findet um 16:00 Uhr in Zürich (Ni Una Menos Platz, ehemaliger Helvetiaplatz) eine Demo gegen die WM, und für alles wofür sie steht, statt. Wir nehmen uns die Strasse und wollen ein lautstarkes Zeichen gegen die ausbeuterische Fifa setzen und vor allem unsere Solidarität mit den Arbeitenden in Katar kundtun.

Hauptsitz, Museum und korrupte Deals in Luxushotels: Zürich soll die Fifa-Stadt sein? Sicher nicht! Die Fifa ist beschissen – und das nicht erst seit der WM in Katar! Seit jeher bereichern sich die Fifa-Bosse am Fussball und verkaufen ihn an die Herrschenden. Doch mit dieser WM haben sie es – einmal mehr – auf die Spitze getrieben. Auf einem Leichenberg halten sie ihr schändliches Spektakel ab. Es ist nicht unser Fussballfest, das da gefeiert wird. Aber der Fussball gehört nicht den Bonzen oder den Mächtigen – er gehört uns, den einfachen Leuten. Uns wir lassen weder die Spiele der Reichen ungestört über die Bühne gehen, noch überlassen wir ihnen unsere Stadt. Wir holen uns zurück, was uns gehört.

Gegen die Spiele der Reichen – Für einen Fussball von unten!

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Auf die Strasse am Weltkobanetag heisst: Schluss mit den Giftgas-Angriffen!

10 Jahre Revolution in Rojava. 8 Jahre Befreiung der Stadt Kobanê. Zeigen wir, dass der WIderstand überall ist!

Die türkische Armee setzt massiv chemische Waffen gegen die kurdische Befreiungsbewegung ein. In den letzten 6 Monaten sind über 100 Kämpfer*innen aufgrund dieser Angriffe gefallen. Kürzlich hat die Guerilla den Tod von 17 weiteren Kämpfer*innen aufgrund von Giftgas bekannt gegeben und Videomaterial veröffentlicht.

Westliche Institutionen wie die UN oder die OPCW schweigen. Sie tun dies, weil der Westen strategische Interessen an einer Zusammenarbeit mit der Türkei hat. Die Türkei bleibt ein wichtiges Investitionsland für westliches Kapital und ist geopolitisch von grosser Bedeutung. Die Türkei wird als Türsteherin gegenüber Geflüchteten genutzt und ist somit wichtiger Bestandteil der Festung Europa.

Doch auch auf den Strassen unserer Städte war es in den vergangenen Monaten viel zu ruhig! Also lasst uns gemeinsam laut sein und das Schweigen, sowie die Komplizenschaft der westlichen Länder bekämpfen! Auf die Strasse zum Weltkobanetag!

> Demo in Zürich am Dienstag 1.11. um 18:30, Werdmühleplatz.

> Demo in Basel am Samstag 5.11. um 14:00, De Wette Park.
Ab 17:00 im Kasko, Burgweg 15: Musik, Essen & Veranstaltungen zur aktuellen Situation in der Türkei und zur Rolle des Internationalismus in der Revolution Rojavas!

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Resolut fordert Beendigung der Werbekampagne der Luzerner Polizei

Die Luzerner Polizei fährt zurzeit eine aufwändige Kampagne um neue Anwerber*innen für den Beruf des/der Polizist*in zu finden. Die ausserparlamentarische linke Gruppierung RESolut kritisiert diese scharf und weist auf die strukturellen Probleme innerhalb der Polizei hin.

Ob Spezialeinheiten oder Polizist*innen in Vollmontur: Es sind mit Action aufgeladene Bilder, mit denen die Luzerner Polizei im Moment neue Bewerber*innen sucht. Unter dem Slogan «117 Prozent du» präsentiert sich die Polizei als attraktive Arbeitgeberin. Dieses Vorgehen kritisiert nun die linke Gruppierung RESolut scharf. «Mit solchen Bildern wird ein falsches Bild der Polizeiarbeit vermittelt und gezielt Rambos und Adrenalinjunkies rekrutiert» sagt ein Sprecher von RESolut. Diese Bewerber*innen würden den Beruf des/der Polizist*in suchen, um Action zu erleben und nicht um anderen Menschen zu helfen. Mit einer solchen Einstellung sei die Wahrung der Verhältnismässigkeit schwierig. «Die Polizei sieht sich selber gerne in einer passiven Rolle als reine Bewahrerin des Gesetzes. Doch die gewählten Bilder zeigen die Polizei in einer konfrontativen und repressiven Haltung. Also genau so, wie sie sich auch meist verhält.».

Kein Vertrauen in die Leitung der Polizei

Vertrauen, dass Bewerber*innen ohne die nötige Sozialkompetenz aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen werden, hat RESolut nicht. «Wer so wirbt, zieht bewusst eine Klientel an, das vor allem Interesse an einem actionreichen Alltag hat. Und wer eine mitfühlende, besonnene Art hat und den Korpsgeist nicht unhinterfragt mitträgt, wird bei der Polizei früher oder später hinausgedrängt». Ausserdem sei die Polizei verzweifelt auf der Suche nach mehr Polizist*innen. Dass der Beruf unattraktiv geworden ist, sei allerdings vor allem ein hausgemachtes Problem. «Die tiefgreifenden Probleme innerhalb der Polizei haben den Beruf für Menschen, die diesen verantwortungsvoll und zum Wohle und Schutz von diskriminierten Gesellschaftsgruppen ausüben möchten, nicht mehr annehmbar gemacht». Als weiteren Punkt nennt RESolut die Tatsache, dass nur Menschen mit Schweizer Staatsangehörigkeit in Luzern Polizist*in werden können. «Die Polizei ist so nicht ein Spiegel der ganzen Gesellschaft, sondern schliesst talentierte Bewerber*innen nur aufgrund der fehlenden Staatsbürgerschaft aus.»

Fehltritte bereits in der Vergangenheit

Die Luzerner Polizei müsse über die Bücher gehen und eine neue Strategie einschlagen. «Die gegenwärtige Werbekampagne zeigt die Polizei als das, was sie zum Beispiel für viele Menschen mit Fluchterfahrung bereits ist: Eine Bedrohung und Ursache physischer und psychischer Gewalt». Durch die Zementierung dieses Bildes würde das Vertrauensverhältnis zur Bevölkerung noch weiter zerrüttet. «Viele Menschen fühlen sich nicht mehr sicher, wenn sie die Polizei sehen. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall». RESolut warnt vor Zuständen wie in den USA und folgert, die einzig richtige Handlung sei das Stoppen der Werbekampagne.
Bereits 2020 geriet eine Werbekampagne der Luzerner Polizei in die Kritik. Damals machte sie Werbung mit einem Bild auf dem es aussah, als knie ein Polizist auf dem Hals einer Person, die festgenommen wird. Dies war kurz nach der Ermordung George Floyds in den USA, der bei einer ähnlichen Aktion ums Leben kam.

Polizei abschaffen oder reformieren?

Für RESolut ist klar, dass in einer diskriminierungsfreien und egalitären Gesellschaft die Institution der Polizei in ihrer jetzigen Form nicht existieren dürfte, respektive gar nicht könnte. Alleine schon deswegen, weil die Polizei selber ein strukturelles Rassismusproblem hat und die hierarchische Struktur und der Korpsgeist Selbstkritik und Veränderungen von innen heraus praktisch verunmöglichen. Doch RESolut ist sich auch bewusst, dass wir aktuell in einer patriarchalen Gesellschaft voller Alltagsrassismus, Trans- und Homophobie und vielen weiteren Diskriminierungsformen leben. Und wenn in Fällen von sexuellen Übergriffen, häuslicher Gewalt oder Angriffen auf transsexuelle Personen Polizist*innen zum Schutz der Opfer handeln, dann ist dies im Jahr 2022 eine notwendige Intervention. Das Problem liegt nicht bei den einzelnen Menschen in Uniform, sondern im System und der Rolle, welche Polizist*innen in vielen Fällen ausüben müssen. Die Abschaffung der Polizei muss einhergehen mit der Abschaffung unseres patriarchalen und kapitalistischen Gesamtsystems. In diesem ist die Polizei, wie alle andere Institutionen welche Herrschaft ausüben, nicht reformierbar.

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Infoveranstaltung zur polnisch belarussischen Grenze: 21.10 19h HelloWelcome

Um die polnischen Aktivist*innen und Menschen bei der Überquerung der polnisch-belarussischen Grenze zu unterstützen, bring nach Möglichkeit Geld, Powerbanks & Handys. Danke!

Am Freitag, 21. Oktober, um 19 Uhr, laden «Seebrücke Luzern» und «Lotte Bibliothek» zu einem Austausch ein mit Aktivist*innen, die sich an der polnisch-belarussischen Grenze engagieren. Im vergangenen Jahr hat sich die osteuropäische Migrationsroute erneut verändert und mittlerweile etabliert. Noch immer versuchen viele Menschen, die Grenze zu überqueren, trotz massiver Militärpräsenz und der Errichtung eines Hochsicherheitszauns. Informationen über die Ereignisse im letzten Jahr, die aktuelle Situation an der Grenze, die Unterstützungsstrukturen und die Herausforderungen der Zukunft. Dazu wird ein Film gezeigt mit Aufnahmen aus dem vergangenen Jahr.

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Wir wollen das Kellerhaus kaufen. Wir sind schon mal drin.

Wir, das Kollektiv Kellerhaus, eine Gruppe an Intressent*innen aus Luzern und Umgebung, die auf das seit 4 Jahren leerstehende Haus an der Kellerstrasse 28a aufmerksam geworden sind, möchten dies gerne kaufen. Wir sind schon mal drin.

Das Kollektiv Kellerhaus kämpft dafür, dass Raum im Allgemeinen und spezifisch im Zentrum, nicht leersteht. Wir sehen Gentrifizierung als Auswuchs einer kapitalistischen, klassistischen, neoliberalen, sexistischen und rassistischen Gesellschaft und Leerstand im Zentrum einer Stadt als Gipfel dieses Trauerspiels. Wir empfinden es als untragbar, dass Einige aufgrund der Profitgier Anderer, der Diskriminierung ihres Geschlechts halber oder infolge neokolonialer Strukturen über ein niedrigeres Einkommen verfügen und sich somit keine teure Wohnung im Zentrum der Stadt leisten können. Wir begreifen diese folgliche Isolierung und Abschottung als strukturelle Benachteiligung, welcher wir uns als Kollektiv entschlossen entgegenstellen. Zentrales Wohnen darf kein Privileg sein!

Um das Eigentumsrecht des Hauses an der Kellerstrasse 28a wird seit dem Tod des ehemaligen Eigentümers gestritten – mittlerweile bereits vor dem schweizerischen Bundesgericht. Seit den andauernden Verfahren steht das Haus an der Kellerstrasse 28a nun bereits über 4 Jahre leer. Wiederholt schalteten sich Genossenschaften ein, die das Haus zu übernehmen versuchten, um den Leerstand an dieser Adresse zu beenden. Konkrete Gespräche bezüglich einem Kauf wurden stets durch die vertretende juristische Person abgewürgt und der Streit vor den Gerichten nahm seinen Lauf, das Haus stand unterdessen weiterhin leer.
Wir haben uns über diesen Fall informiert. Ein Streit, der vermutlich viel Energie wie auch Geld abverlangt. Klar ist jedoch, dass die Kellerstrasse 28a ein weiteres, seit Jahren leerstehendes Haus in Luzern ist. Ein leerstehendes Haus, in welchem Menschen leben können. Ein Haus, welches genutzt, belebt und geliebt werden kann.

Dieses Haus ist nun besetzt, damit es unmittelbar JETZT genutzt werden kann. Und nicht erst nach zwei, drei oder zehn weiteren Jahren Leerstand, wenn dann endlich mal ein Gerichtsurteil gefällt worden ist, das Haus noch erst saniert werden soll, die Genehmigung noch her muss, und dann noch Einsprachen dazu kommen. Es muss JETZT etwas passieren. Es wird JETZT genutzt.

In einem demokratischen System bleiben die Bedürfnisse und Ideen von Minderheiten demzufolge Minderheiten, wie auch die Wege sich gegen Dinge, die über einem entschieden wurden, zu wehren, begrenzt. In einer neoliberal kapitalistisch geprägten Demokratie mit einer rechten Mehrheit in politischen Positionen ist Mitentscheidung und Meinungsfreiheit immer mehr ein Schein statt Realität. Individuelle Selbstverwirklichung und Chancengleichheit wird grossgeschrieben, doch wer schlussendlich tatsächlich wirtschaftlichen Erfolg erziehlt und wer durch alle Maschen fällt, bleibt unsichtbar. Wieviele Menschen arbeiten jeden Tag an einem Arbeitsplatz, der sie kaputtmacht? Wieviele Menschen können sich Ende Monat neben dem Bezahlen von Mieten und Grundbedürfnissen nicht mehr als Träume leisten? Wieviele dieser Menschen haben neben Job und Care Arbeit noch Kapazität, sich politisch für ihre Rechte zu engagieren? Wievielen von diesen Menschen wird das Recht auf Mitbestimmung von Grund auf verwehrt, weil sie keinen Schweizer Pass besitzen? Es sind viele, viel zu viele Menschen, die unter dem kapitalitischen System, welches auf Macht und Ausbeutung beruht, leiden. In der heutigen globalisierten Welt scheinen Probleme oft weit weg von der reichen Schweiz, doch diese Machtstrukturen müssen überall, genauso in ökonomisch einflussreichen Ländern, bekämpft werden.

Direkte Aktionen, welche sich gegen jegliche Art der Unterdrückung dieser Machtstrukturen zu wehren versuchen, werden mehr und mehr kriminalisiert. So wurde in Vergangenenheit das Besetzten eine immer kurzfristigere, bloss informierende Aktion und Besetzungen ein unsicheres Terrain für genau die Menschen, die diesen Wohnraum am meisten brauchen. Doch wir wollen, dass JETZT Menschen im Zentrum wohnen können, denen der Zugang zu zentralem Wohnen verwehrt bleibt und die es sich nicht leisten können zu besetzten, geschweige denn zu streiten. Wir möchten nicht nur über die Missstände informieren, wir möchten auch wirkliche Alternativen bieten. Wir wollen das Kellerhaus JETZT kaufen.

Wäre der Häuserkauf für uns ein Leichtes, hätten wir wohl andere Mittel, um nach unseren Bedürfnissen in dieser Welt leben zu können. Doch da sich in der Regel mehr Menschen gegen eine Sache wehren, die sie selbst betrifft, gehören auch wir zu den weniger zahlkräftigeren Klassen, die sich keine Häuser leisten können.

Freilich sind wir aber nicht allein. Wir können uns vielleicht einzeln keine Häuser leisten, doch zusammen können wir es. Die erzielte Vereinzelung staatlicherseit trägt zwar stark dazu bei, dass wir nicht gemeinsam kämpfen. Dennoch ist es möglich, Kämpfe zu verbinden, es erfordert just imensen Aufwand wie auch wieder dieses Geld. Genau deshalb bleibt es relevant, zu informieren, aufmerksam zu machen und sich zu vernetzen. Deshalb bleibt es relevant, Häuser zu besetzen.

Überdies sehen wir eine langfristige Lösung im kollektiven Häuserkauf. Wir wollen das Haus an der Kellerstrasse 28a durch kollektives Eigentum und Selbstverwaltung nachhaltig der Spekulation und dem kapitalistischen Immobilienmarkt entziehen. Wir wollen preisgünstigen Wohnraum im Zentrum schaffen wie auch erhalten. Wir wollen selbstverwaltete Hausgemeinschaften. Wir wollen sie JETZT.
Das Miethäuser-Syndikat Schweiz bietet als Exempel progressive Ansätze in diesem Metier. Eine Genossenschaft, die Gebäude aus dem Immobilienmarkt herauskauft. Durch ihren Kauf werden die Häuser endgültig vom Markt genommen und sind dadurch frei von Spekulation und Profit. Mit Soli-Geldern und den bezahlten Mieten wird sowohl das Haus unterhalten als auch neue Projekte finanziert. mehr dazu findet mensch unter https://www.mietshaeusersyndikat.ch/

Widerständige Grüsse
Kellerhaus Kollektiv

#alleswirdbesetzt

Quelle: https://barrikade.info/article/5410

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Interview: Anarchist*innen im Iran über die Proteste

Am 13. September 2022 wurde die 22-jährige Mahsa Amini von der iranischen “Sittenpolizei” verhaftet. Mahsa wurde in Teheran verhaftet, weil sie sich nicht an die Kleidervorschriften gehalten hatte. Drei Tage später, am 16. September, teilte die Polizei der Familie von Mahsa mit, dass sie ein “Herzversagen” erlitten habe und zwei Tage lang ins Koma gefallen sei, bevor sie verstarb.

Augenzeugenberichte, darunter der ihres eigenen Bruders, machen deutlich, dass sie bei ihrer Festnahme brutal geschlagen wurde. Durchgesickerte medizinische Scans deuten darauf hin, dass sie eine Hirnblutung und einen Schlaganfall erlitten hatte – Verletzungen, die letztlich zu ihrem Tod führten.

In den Tagen nach Bekanntwerden dieser Details kam es in ganz Iran zu Massenprotesten, bei denen die Ermordung von Mahsa durch die Polizei beklagt wurde.

Um diese sich rasch verändernde Situation besser zu verstehen, haben wir ein sehr kurzes Interview mit der Federation of Anarchism Era geführt, einer Organisation mit Sektionen im Iran und in Afghanistan.

Dieses Interview wurde zwischen dem 20.9.22 und dem 23.9.22 geführt.

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Interview

Black Rose / Rosa Negra (BRRN): Bitte gebt zunächst eine kurze Beschreibung der Federation of Anarchism Era.

Federation of Anarchism Era (FAE): Die Federation of Anarchism Era ist eine lokale anarchistische Föderation, die im so genannten Iran, Afghanistan und darüber hinaus aktiv ist.

Unsere Föderation basiert auf dem Synthese-Anarchismus und akzeptiert alle anarchistischen Tendenzen mit Ausnahme von nationalistischen, religiösen, kapitalistischen und pazifistischen Tendenzen. Unsere langjährige Organisationserfahrung in extrem repressiven Umgebungen wie dem Iran hat uns dazu gebracht, eine aufständische Organisationstaktik und Philosophie zu entwickeln und anzuwenden.

Wir sind eine atheistische Organisation und betrachten Religion als eine hierarchische Struktur, die älter und beständiger ist als fast alle anderen autoritären Systeme und dem Kapitalismus und anderen autoritären sozialen Strukturen, die die Menschheit heute versklaven, viel zu ähnlich ist. Zum Klassenkampf gehört aus unserer Sicht auch der Kampf gegen die klerikale Klasse, die uns unserer Freiheit und Selbstbestimmung beraubt, indem sie das Heilige und das Tabu definiert und sie mit Zwang und Gewalt durchsetzt.

BRRN: Wer war Mahsa Amini? Wann, warum und wie wurde sie getötet?

FAE: Mahsa Amini, von ihrer Familie Zhina genannt, war eine gewöhnliche 22-jährige Kurdin aus der Stadt Saghez (Saqez) in Kurdistan.

Sie reiste mit ihrer Familie nach Teheran, um Familien zu besuchen. Am 13. September wurde Mahsa in Begleitung ihres Bruders Kiaresh Amini von der Sittenpolizei oder der so genannten “Guidance Patrol” wegen “unangemessenen Hijabs” verhaftet. Ihr Bruder versuchte, die Verhaftung zu verhindern, aber die Polizei setzte Tränengas ein und schlug auch auf Kiaresh ein.

Viele andere verhaftete Frauen wurden Zeuginnen des Geschehens im Polizeiwagen. Auf dem Weg zur Polizeiwache kam es zu einem Streit zwischen den inhaftierten Frauen und den Polizeibeamten. Mahsa Amini war eine der Frauen, die gegen ihre Verhaftung protestierte. Sie sagte, sie sei nicht aus Teheran und sie müsse auf der Stelle freigelassen werden.

Die Polizei wandte körperliche Gewalt an, um alle inhaftierten Frauen zum Schweigen zu bringen. Auch Mahsa wurde verprügelt. Augenzeugen berichteten, dass die Polizeibeamten Mahsas Kopf hart gegen die Wand des Polizeiwagens schlugen.

Sie war noch bei Bewusstsein, als sie in der Agentur für Moralische Sicherheit ankam, aber die anderen inhaftierten Frauen bemerkten, dass sie es ihr schlecht ging. Die Polizei zeigte sich völlig gleichgültig und beschuldigte sie der Schauspielerei. Die Frauen protestierten weiter, um Mahsa zu helfen, die notwendige medizinische Versorgung zu erhalten. Die Proteste wurden von der Polizei mit Gewalt beantwortet. Mahsa Amini wurde von der Polizei erneut schwer geschlagen und verlor daraufhin das Bewusstsein.

Die Polizei wurde daraufhin aufmerksam und versuchte, sie wiederzubeleben, indem sie ihr die Brust aufpumpte und ihre Beine hochlegte und massierte. Nachdem diese Versuche gescheitert waren, griff die Polizei andere Frauen an, um alle Handys und Kameras zu konfiszieren, die den Vorfall möglicherweise aufgezeichnet hatten.

Nach langen Verzögerungen und der Suche nach den verlorenen Schlüsseln für den Krankenwagen wurde Mahsa ins Kasra-Krankenhaus gebracht.

Die Klinik, in die Mahsa Amini eingeliefert wurde, behauptete in einem Instagram-Post, Mahsa sei bei ihrer Einlieferung hirntot gewesen. Dieser Instagram-Post wurde später wieder gelöscht.

Am 14. September berichtete ein Twitter-Account eines Freundes, der im Kasra-Krankenhaus arbeitet, dass die Polizei den Ärzt*innen und dem Pflegepersonal gedroht habe, keine Fotos oder Videobeweise zu machen und die Eltern von Mahsa über die Todesursache zu belügen. Das Krankenhaus, das eingeschüchtert wurde, hat der Polizei gehorcht. Sie logen die Eltern an, dass es sich um einen “Unfall” gehandelt habe, und hielten sie zwei Tage lang an den lebenserhaltenden Maßnahmen fest. Mahsa wurde am 16. September für tot erklärt. Ihre Todesursache aus den medizinischen Scans, die von Hacktivisten veröffentlicht wurden, zeigt Knochenbrüche, Blutungen und ein Hirnödem.

BRRN: Hat Mahsas Identität als Kurdin bei ihrer Verhaftung und ihrem Tod eine Rolle gespielt?

FAE: Zweifellos spielte die Tatsache, dass sie Kurdin in Teheran ist, eine Rolle bei Mahsas letztendlichem Tod. Aber es ist eine Realität, die alle Frauen im Iran erleben. Wir brauchen nicht lange zu suchen, um Videoaufnahmen zu finden, in denen die Sittenpolizei Frauen schlägt und in Polizeifahrzeuge zwingt, Frauen aus einem fahrenden Auto auf die Straße wirft und Frauen wegen ihres “unpassenden Hijab” belästigt werden. Diese Videos zeigen nur einen winzigen Bruchteil der Hölle, die Frauen im Iran erleben.

Dass Mahsa am Tag ihrer Verhaftung bei ihrem Bruder war, war kein Zufall. In der patriarchalen Gesellschaft des Irans müssen Frauen ständig einen männlichen Verwandten, sei es ein Vater, Ehemann, Bruder oder Cousin, mitnehmen, um die Sittenpolizei abzuwehren und belästigende Personen in der Öffentlichkeit abzuwehren. Junge Paare dürfen in der Öffentlichkeit nicht zu nahe beieinander gesehen werden, da sie sonst Gefahr laufen, von der Sittenpolizei verprügelt und verhaftet zu werden. Angehörige mussten Dokumente vorlegen, um ihre Beziehung gegenüber der Polizei zu belegen. Die Verhaftung von Frauen wegen Lippenstift und Nagellack war eine Realität, an die sich viele von uns Millennials im Iran lebhaft erinnern.

Ein weiterer Alptraum für Frauen im Iran ist die Bedrohung durch Säureanschläge wegen eines “schlechten Hijab”.
Patriarchat und religiöse Autokratie betreffen alle Frauen.

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BRRN: Wie hat das iranische Volk von Mahsas Tod erfahren? Wie war die erste Reaktion der Bevölkerung?

FAE: Wie wir bereits erwähnt haben, gab es viele Augenzeugen. Keine noch so großen Drohungen hätten verhindern können, dass die Geschichte von Mahsas Tod durchsickert.

Es ist erwähnenswert, dass der Arzt, der Mahsa behandelte, und der Fotojournalist, der Mahsas Zustand und die Notlage ihrer Familie dokumentierte, beide verhaftet wurden und ihr derzeitiger Status unbekannt ist.

Die erste Reaktion war Empörung. Die Menschen teilten bereits Mahsas Geschichte vom 14. September. Die Empörung war jedoch noch nicht groß genug für Proteste und Aufstände. Die Menschen dachten noch, Mahsa läge im Koma, und es bestand Hoffnung auf ihre Genesung. Dann wurde sie am 16. September für tot erklärt.

Zunächst gab es kleinere Proteste am Kasra-Krankenhaus, die von der Polizei aufgelöst wurden. Die Funken des aktuellen Aufstands wurden in Saghez, Mahsas Heimatstadt, gezündet.

BRRN: Welches Ausmaß haben die derzeitigen Demonstrationen? Auf welche Gebiete des Landes konzentrieren sich die Demonstrationen?

FAE: Die Situation ist sehr dynamisch und ändert sich außergewöhnlich schnell. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels haben die Flammen des Aufstands 29 von 31 Provinzen des Irans in Brand gesteckt. Eines der Merkmale dieses Aufstands ist, dass er sich schnell auf große Städte im Iran wie Teheran, Tabriz, Isfahan, Ahvaz, Rasht und andere ausbreitet.

Qom und Mashhad, die ideologischen Hochburgen des Regimes, haben sich dem Aufstand angeschlossen. Auch die Insel Kish, das kapitalistische und kommerzielle Zentrum des Regimes, hat sich aufgelehnt. Dies ist der vielfältigste Aufstand, den wir in den letzten Jahren erlebt haben.

Für den 23. September planen die Syndikalist*innen einen Generalstreik zur Unterstützung der Proteste.

Das Regime hat für denselben Tag eine bewaffnete Demonstration geplant. Es ist also viel los.

BRRN: Wie hat der iranische Staat auf diese Demonstrationen reagiert?

FAE: Die erste Reaktion des Regimes war weniger brutal, als wir es bisher erlebt haben. Ein Grund dafür ist, dass sie überrascht wurden. Sie haben nicht mit dieser starken Reaktion gerechnet. Der wichtigere Grund ist, dass Ibrahim Raisi bei der UNO ist. Das Fehlen hochrangiger Persönlichkeiten, die öffentliche Geschichte von Mahsa und die Proteste sowie der Druck auf die Regierung, die von der internationalen Gemeinschaft beobachtet wird, haben das Massaker vorerst gestoppt.

Verstehen Sie uns nicht falsch. Die Polizei hat vom ersten Tag der Proteste an viele Menschen getötet und verletzt. Unter ihnen waren auch 10-jährige Kinder und 15-jährige Jugendliche. Aber wir haben den November 2019 erlebt, als das Regime innerhalb von drei Tagen viele Tausend Menschen massakrierte.

Bei allen früheren Aufständen war die Polizei nicht direkt das Ziel des Zorns der Menschen. Diesmal ist es anders. Diesmal ist sie der Bösewicht, und die Menschen sind auf ihr Blut aus. Das zermürbt sie physisch und psychisch, was wir als gute Nachricht werten.

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Im Moment erleben Saghez und Sanandaj eine rücksichtslose Unterdrückung. Das Regime hat Panzer und schwere Militärfahrzeuge eingesetzt, um den Aufstand dort zu unterdrücken. Es gibt viele Berichte, dass mit scharfer Munition auf die Demonstrant*innen geschossen wurde.

Die Proteste gehen weiter. Die Polizeiautos werden umgeworfen. Die Polizeistationen wurden geplündert und niedergebrannt. Wir müssen uns nur bewaffnen, indem wir ihre Waffenlager plündern. Dann treten wir in eine ganz andere Phase der Revolte ein.

BRRN: Ist es richtig, diese Demonstrationen als feministisch zu bezeichnen?

FAE: Ja, auf jeden Fall. Wie bei allen anderen Aufständen gab es auch hier Entwicklungen und Bewegungen unter der Oberfläche.

Man kann sagen, dass das jüngste harte Vorgehen gegen den Hijab und die zunehmende Brutalität der Sittenpolizei eine Reaktion auf die spontane, autonome und feministische Selbstorganisation der iranischen Frauen war. Anfang dieses Jahres begannen Frauen im Iran, Personen und Geschäfte, die den Hijab strikt durchsetzen, auf eine schwarze Liste zu setzen und zu boykottieren, z. B. Cafés. Die Bewegung war dezentralisiert und führerlos und zielte darauf ab, sichere Räume für Frauen und Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft zu schaffen.

Diese brutale Unterdrückung gipfelte in diesem Moment, in dem Frauen überall an vorderster Front stehen, ihre Kopftücher verbrennen und Polizisten verprügeln. Der Hauptslogan des Aufstands ist “Frau, Leben, Freiheit” (Jin, Jiyan, Azadî), ein Slogan aus Rojava, einer Gesellschaft, deren Ambitionen auf einer anarchistischen, feministischen und säkularen Ideologie beruhen.

BRRN: Welche politischen Elemente (Organisationen, Parteien, Gruppen) sind an den Demonstrationen beteiligt, wenn überhaupt?

FAE: Bei jedem Aufstand versuchen viele Organisationen, Parteien und Gruppen, sich die Proteste zu eigen zu machen oder sie zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Die meisten von ihnen stießen bei diesem Aufstand auf ein unlösbares Problem.

Erstens: Die Monarchisten. Reza Pahlavi, der tote Sohn des sehr toten früheren Schahs von Iran, eine Person, die durch gestohlenes Geld und Mediennetzwerke außerhalb Irans gestützt wird, rief inmitten der öffentlichen Empörung und der anfänglichen Proteste zu einem nationalen Trauertag auf, anstatt seine Ressourcen zur Unterstützung der Revolte einzusetzen. Die Menschen haben ihn schließlich als den Scharlatan erkannt, der er ist. “Tod den Unterdrückern, ob Schah oder Führer”, war im ganzen Iran zu hören.

Dann die MEK oder Mujahedin Kalq. Die MEK hat ein ideologisches Problem mit diesem Aufstand. Sie sind eine Sekte, deren weibliche Mitglieder gezwungen werden, rote Kopftücher zu tragen. Ihre Entstehungsgeschichte reicht von der Verbindung marxistischer und islamischer Ideologien, die vor 1979 von Marxisten-Leninisten gekapert wurden, bis hin zu einer Sekte, die heute im Dienste kapitalistischer und imperialistischer Staaten steht. Dennoch verbrennen die Frauen im Iran ihre Kopftücher und den Koran. In diesem politischen Klima haben sie kein Mitspracherecht.

Dann gibt es kommunistische Parteien, die Rojava verachten und immer schlecht darüber reden. Ihre entlarvte und verrostete Klassenanalyse hilft ihnen nicht dabei, die Herzen hier zu gewinnen.

Bei all ihren Reden und ihrer Propaganda für Säkularismus und Feminismus hatten sie nicht einen einzigen Slogan, der auf die Befreiung der Frauen ausgerichtet war. Und ihre Ideologie hinderte sie daran, “Frauen, Leben, Freiheit” zu skandieren. Sie hatten nichts zu sagen, also hielten sie den Mund. Deshalb ist ihre Präsenz bei den heutigen Protesten viel schwächer.

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Die anarchistische Bewegung wächst im Iran. Dieser Aufstand, der führerlos, feministisch und antiautoritär ist und Rojava-Slogans skandiert, hat dazu geführt, dass Anarchist*innen, die der Föderation angehören oder nicht, eine starke Präsenz in diesem Aufstand haben. Leider wurden auch viele verhaftet und verletzt.

Wir arbeiten daran, das antikapitalistische Potenzial dieser Bewegung zu verwirklichen. Denn die Islamische Republik ist ein Todeskult und Religion, Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus sind ihre ideologischen Säulen. Damit wir leben können, müssen wir frei sein, und das geht nicht, ohne dass die Befreiung der Frauen an vorderster Front steht.

BRRN: In Solidarität. Vielen Dank für Ihre Zeit.

FAE: Solidarität.

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